Anneliese Stiefel
Liebe Anneliese Stiefel, ich dachte, Sie seien 80 Jahre alt und nun erzählen Sie mir, dass Sie schon 96 Jahre leben – ich kann es kaum glauben, hätte ich nicht gehört, dass Ihre Kindheit bis in die Zeit Deutsch-Ost-Afrikas, dem heutigen Tanzania, zurückreicht.
Ja, dort habe ich die ersten 9 Jahre meiner Kindheit verbracht. Meine Eltern leiteten im Auftrag der Bethel-Mission ein Krankenhaus für psychisch erkrankte Menschen in den Usambara-Bergen. Ein paar Jahre besuchte ich dort eine Internatsschule, die 3 Tagesmärsche von meinem Elternhaus entfernt war.
Und nach dem ersten Weltkrieg?
Wir kamen erst 1922 wieder nach Deutschland, da die Engländer lange Zeit keinen Nachfolger für die Leitung des Krankenhauses fanden. Meine Mutter starb leider schon 5 Jahre später und wir sieben Kinder führten der Reihe nach den Haushalt. In unserem Haushalt waren immer wieder junge Gäste und dort traf ich eines Tages meinen Mann, den Diakon Gottfried Stiefel. Er hatte die sog. „fünf enthaltsamen Dienstjahre“ (Vorschrift bei Diakonen) in Palästina am Syrischen Waisenhaus, einer Schule in Jerusalem, geleistet und war nun für eine kurze Zeit in Deutschland, um sich darauf vorzubereiten, den landwirtschaftlichen Betrieb „Chemet Allah“ in Palästina zu leiten, der dem Syrischen Waisenhaus zugehörte. Wir verliebten und verlobten uns. Ich zog 1935 nach Chemet Allah, nachdem ich den Brautkurs , d.h. einen Hauswirtschaftskursus und eine Ausbildung in Frauenheilkunde gemacht hatte.
Was ist Ihnen Heimat?
Das ist so schwer zu sagen. Afrika? Palästina? Vielleicht ist es am meisten Bielefeld, wo wir 30 Jahre lang lebten und wo ich Geschwister und viele Freunde in der Nähe habe.
Sie werden schnell an Orten heimisch?
Ja, als meine Kinder mich überredeten, zu ihnen nach Hamburg zu ziehen, habe ich mich sofort hier eingelebt und auch gerne dafür mein eigenes Haus aufgegeben.
Vielleicht haben Sie Ihre Heimat in sich.
Ich bin innerlich unabhängig. Ich bin an so vielen Orten gewesen. Wenn man im Ausland mit anderen Kulturen gelebt hat, fällt es einem nie schwer, auf Menschen zuzugehen. Was manchem fremd ist, ist mir oft nicht fremd, mich zieht es eher an. Hier habe ich den Anschluss sogleich über die Kirche gesucht, das geht immer am besten. Bereits nach dem ersten Gottesdienst kam eine Dame auf mich zu und sprach mich an und lud mich zu einem Angebot der Kirche ein. Ich war hier nie einsam und wenn ich alleine in meiner Wohnung bin, dann fühle ich mich nicht alleine.
Was spüren Sie nach, wenn Sie alleine in Ihrer Wohnung sind?
Ich bin dankbar für mein Leben, es erfüllt mich sehr. Ich habe meine Fotos und die vielen Bilder in mir. Ich habe meine Familie. Ich fühle mich nicht allein. Ich habe Gott, ich habe Jesus und gehe auf Menschen zu. Ich habe immer Gemeinschaft erlebt, das bringt das Leben in der Diakonie mit sich, jedenfalls in der Form, wie Diakonie damals gelebt wurde. Heute ist sicherlich manches anders. In unserer aktiven Zeit waren wir eine enge christliche Gemeinschaft. Diakone hatten oft handwerkliche oder pflegende Berufe, die sie direkt einsetzen konnten. Der Dienst an den Menschen stand im Mittelpunkt und wir taten ihn in Gemeinschaft mit anderen. Geld hatten wir alle nur wenig, aber das störte uns nicht, wir hatten uns.
Was war Ihre schwerste Aufgabe?
Im Siegerland leiteten mein Mann und ich ein Lehrlingsheim. Die ca. 50 Jugendlichen kamen aus ganz Deutschland, um in der dortigen Eisenindustrie eine Ausbildung zu machen. Es waren oft Jugendliche, die auch viel Leid erlebt hatten, aber sie waren nett. Mir fiel es nur so schwer, dass ich mich bei der Versorgung dieser Jugendlichen, die Anfang der 50ger Jahre mit dürftigsten Mitteln erfolgen musste, so wenig um meine eigenen kleinen Kinder kümmern konnte.
Sie haben Ihr Leben in der Abgeschiedenheit von „Chemet Allah“ mit den arabischen Fellachen geteilt. Können Sie mir mit dieser Erfahrung „etwas mit auf den Weg geben“?
Ich freue mich, dass diese Gemeinde eine Weltethosgemeinde ist. Die Religionen müssen sich doch verstehen und kennen lernen. Das darf nicht „gewaltsam“ von „oben“ kommen wie bei der plötzlichen Umwandlung meiner Heimatkirche in Bielefeld in eine Synagoge, sondern es muss im langsamen Dialog erfolgen und das scheint hier versucht zu werden.
IN SCHA ALLAH, liebe Frau Stiefel, Gott segne Sie!