Dagmar Petraß
Liebe Frau Pietraß. Sie haben das Silberne Kronenkreuz, eine Auszeichnung der Diakonie für besondere Dienste am Menschen erhalten. Sie möchten im Stillen handeln, es am liebsten unerwähnt lassen, aber wie war Ihr erster Schritt zu diesem Dienst an den Menschen im Schillingstift?
Ich bin mit dem Wert aufgewachsen, für Menschen „da zu sein“, irgendwie ist es in meinem Blut – ich weiß es nicht. Nach meinem langen Berufsleben als Buchhändlerin habe ich einen der Blankeneser Pastoren auf der Straße gefragt, was ich tun könnte. Auf diesem Weg kam ich in das Schillingstift. Nachdem die Leiterin mich fragte, ob ich „nur mal so“, oder kontinuierlich helfen könnte, habe ich mich aus Überzeugung für Letzteres entschieden. Wenn man etwas aufbauen möchte, muss es auch Beständigkeit haben. „Wir haben eine Dame, die erblindet, nicht mehr gut hört und einsam ist“, sagte sie und lud mich zu einem Abendessen ein, an dem mehrere Menschen mit am Tisch saßen. Letztendlich war die Dame auch der Mensch, mit dem ich in dem Moment große Verbundenheit empfand. Sie kam aus Berlin, vorher aus Mecklenburg, wo sie kinderlos kurz vor Ende des Krieges ihren Mann verlor. Ich habe sie bis kurz vor ihrem 101sten Geburtstag begleitet und mit zu Grabe getragen. Nach dem Weltkrieg gibt es viele Frauen, die ihr Leben ohne ihre Männer gestalten mussten. Manche hatten das Glück, an das Leben Anschluss zu finden, viele sind vereinsamt. So bin ich geblieben und habe angefangen, mich um die Bücherei im Schillingstift zu kümmern. Es ist möglich, Menschen mit unterschiedlichen Interessen an eine eigene Lektüre heranzuführen. Daraus ergaben sich dann sehr persönliche Annäherungen an einige Menschen. Ich höre gerne zu und oft genügt schon ein Stichwort und sie erzählen ein Stück von ihrem Leben. Es sind oft Einblicke in auch furchtbare Dinge wie Flucht und Vertreibung. Diese Menschen sind dankbar, dass sie die Erlebnisse, die sie ja ihre ganzes Leben begleiten, auch einmal loswerden können und ich bin ein dankbarer Zuhörer. Ich liebe Menschen und ihre Geschichten. In dieser Zeit habe ich gelernt, wie wichtig es ist, in diese Einrichtungen zu gehen und einfach zu zeigen, dass ich von Herzen komme, weil ich sie mag. Ich finde es schade, dass, wenn man an alte Menschen denkt, immer nur Kosten genannt werden und „wie sollen wir das bezahlen“. Wir, die Gesellschaft, müssen diesen gelebten Leben einen Platz in unserer Mitte einräumen. Diese Menschen sind keine Anhängsel, die man durchfüttern muss. Und wir können sie fordern und ihre Gedanken sind wertvoll. So las ich einmal einen Artikel aus CHRISMON vor, ein Interview mit Thomas de Maiziére. (http://chrismon.evangelisch.de/artikel/2011/nur-disziplin-macht-auch-keinen-spass-13283 Anm. d. Redaktion) Es war für mich unglaublich beeindruckend: natürlich wussten alle, wer dieser Mann ist – ich musste nichts erklären. Und nach den Fragen nach der Angst vor dem Tod, der ganzen Aufmerksamkeit, habe ich mir vorgenommen, solche Texte dort einzubringen.
Ich möchte an dieser Stelle erwähnen, dass Sie seit vielen Jahren auch einen Literaturkreis im Fischerhaus leiten. Sie führen darin mit einem Kreis von engagierten Lesern systematisch anhand von sehr anspruchsvoller Literatur in die Literaturgeschichte ein.
Im Schillingstift kann ich leider nur bei Einzelnen näher hinsehen und mal eine kleine Karten-Krippe zu Weihnachten oder eine Frühlingsblume zu Ostern hinstellen.
Das Schillingstift wird ja gerade neu gebaut, die Bewohner sind vorübergehend umquartiert nach Schnelsen, in das Bischof-Ketteler-Haus. Sie haben einen weiten Weg. In den letzten Wochen oft in der Kälte an Bushaltestellen.
Ja, aber das mache ich am Ende gerne. Für die Menschen dort jedoch ist es schwer. Sie sind dort nicht integriert und viele haben Angst, nicht wieder an den Ort zurückkehren zu können, der ihnen doch Heimat geworden ist. Aber ich kann ihnen mit meinem Weg zeigen, dass in diesem Leben eine Kontinuität ist.
Und wie geht es Ihnen, wenn Sie nach Hause kommen?
Ich bin noch nie – ich will einmal das Wort benutzen, denn mir fällt gerade kein besseres ein – „frustriert“ nach Hause gekommen. Ich komme immer froh nach Hause mit dem Wunsch im Gepäck, noch mehr zu tun, als ich bisher tue. Ich lerne so viel dabei. Auch von der großen Würde, mit der bei vielen das Alt-Werden verbunden ist, aber auch von der Angst. Oft fragen mich Freunde, wie ich das aushalte, aber es ist mir so vertraut. Mir ist es wichtig, die Menschen dort zu berühren und ihnen nahe zu sein. Wir müssen sie ansehen, es gibt uns so viel, wenn wir nicht mit gesenktem Blick durch die Reihen gehen. Ich wünsche mir im Umgang mit alten Menschen mehr Normalität. So, wie es früher in Großfamilien war, wird es wohl nicht mehr möglich sein, aber es muss doch eine Einsicht geben „wir leben hier, ihr lebt dort, aber wir leben gemeinsam“. Altwerden gehört zu jedem von uns, damit schließt sich ein Kreis. Ich habe in diesen Menschen im Schillingstift interessante und warmherzige Menschen gefunden und ich bin dankbar dafür. Diese Menschen gehören in unser Leben und sollen für mich teilhaben an dem Glück, welches ich in meinem Leben verspüre.
Und wie ergeht es den Pflegern im Schillingstift?
Ich nehme wahr, dass sie bis an die Grenzen des Möglichen gehen. Sie haben bei so vielen einen genauen Einblick in das Leben und damit sind sie weit über das hinaus gefordert, was ihnen das „Pflegeprotokoll“ abverlangt. Sie handeln danach, was die Menschen individuell brauchen. Die haben wirklich meine Hochachtung.
Es gibt noch viele Worte von Ihnen in meinen Aufzeichnungen und es fällt mir schwer, sie nicht zu nennen, aber der Platz... und Sie haben unsere wirkliche Hochachtung.
Stefanie Hempel