Dr. Brigitte Mahn
Die Ordenschwester Karoline Mayer hat Sie in die Armenviertel von Santiago de Chile eingeladen, nachdem Sie sich auf einer Veranstaltung der GemeindeAkademie im Mai 2015 begegnet sind. Und Sie sind zu ihr gereist. Was hat nach einer so kurzen Begebenheit zu dieser Reise geführt?
Dazu muss ich etwas Grundsätzliches klären, was mein Leben bestimmt hat: Ich wollte schon als kleines Kind Ärztin werden, ohne dass es Vorbilder in der Familie gab. Mein Vorbild war Albert Schweitzer. Meine Eltern wollten mir den Arztberuf ausreden, ich habe es letztendlich durchgesetzt. Somit können Sie vielleicht ermessen, was es für mich bedeutet, Ärztin zu sein. Auch Karoline Mayer wollte unbedingt Medizin studieren, aber ihr damaliger Orden, die Steyler Missionschwestern, haben ihr dieses Studium nicht erlaubt.
Wie auch Sie, wollte sie Menschen helfen. Wie hat man als Pathologin eine Nähe zum Menschen? Ich denke dabei nur an Untersuchungen unter dem Mikroskop.
Der Pathologe kann viel enger am Menschen arbeiten, als allgemein gedacht wird. Seine Diagnose ist der Goldstandard der Medizin. D.h. nicht, dass sie nicht auch fehlerhaft sein kann. Aber insgesamt ist sie sicherer als jedes bildgebende Verfahren. Ich habe auch oft Operationen und Visiten begleitet.
Sie haben sich mit Karoline Mayer sehr schnell verbunden gefühlt?
Ja. Unser Gespräch nach ihrem Vortrag war kurz und intensiv und wir stellten viele Ähnlichkeiten fest. Sie gab mir ihre Email-Adresse und sagte „Komm mich besuchen!“. Und sie schrieb es mehrfach. Dann habe ich diese Reise geplant. Ich war fünf Wochen in Chile und bestand auch darauf, im Armenviertel untergebracht zu sein. Dort herrscht eine sehr hohe Kriminalität, aber ich habe bemerkt, dass die Menschen Karoline Mayer und ihre Mitarbeiter vor allem schützen und auch mich akzeptierten.
Und ist es nicht eine Dissonanz der Gefühle, aus der westlichen Welt als „helfender Engel“ in die Slums zu gehen, um letztendlich dort wenigen zu helfen? Dies, wo die Verarmungen im Grunde auf wirtschaftliche Strukturen zurückzuführen sind, die uns hier diesen Wohlstand ermöglichen?
Ich verstehe, was Sie meinen, aber ich habe dieses Gefühl nicht bei Karoline Mayer. Sie hat vielen Menschen den direkten Zugang u.a. zu ärztlicher Versorgung, Bildung und Berufsbildung geschaffen. Es ist eine wirklich christliche, aber vor allem auch aktive Lebenshilfe, Hilfe zur Selbsthilfe. Aber ob das nun der Politik oder Kirche gilt: Wenn ich diese Kritik höre, frage ich die Menschen, warum sie denn nicht in die Politik oder Kirche gehen, um dort Strukturen zu verändern. Ich würde z.B. nie aus der Kirche austreten, ich will dort intern etwas verändern. Deswegen war ich auch in der Politik sehr aktiv. Das bedeutet weniger Privatzeit, aber nur so kann man etwas verändern.
Aber viele Menschen haben wohl wenig Lust auf hiesige Bezirksabende in versteinerten Parteistrukturen.
Gut, dann müssen sie selber eine Partei gründen oder ihre Berufe ausnutzen, um Querverbindungen in die Politik herzustellen. Wenn man wirklich etwas tun möchte, muss man sich überlegen, auf welchem Wege es für einen realisierbar ist. Für mich war die Ärztekammer ein Gremium, in dem ich wirken konnte. Aber auch die Weltethos-Gruppe oder die GemeindeAkademie hier vor Ort ermöglichen es einzelnen, Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben.
Was halten Sie von den FSJlern im Ausland (Freiwilliges Soziales Jahr)? Bringt das etwas oder ist es meist nur ein „exotisches“ Kurzabenteuer, zumal viele das nur für drei Monate machen?
Ich halte viel davon. Länger ist natürlich besser. Junge Menschen werden dafür gewonnen, nicht nur auf sich selbst zu schauen, sondern auf die Welt der anderen. Wir sind alle miteinander verbunden, wir sind eine Welt. Es sind Persönlichkeitsbildung und Weitsicht, die dabei gewonnen werden, und das geht nur über Erfahrungen. Es geht nicht nur darum, ein „Gutmensch“ zu werden – ich mag es eigentlich überhaupt nicht, dass das eine Art Schimpfwort wurde. Es geht darum, den anderen wirklich als „Du, wie ich“ anzuerkennen und seine Lebensbedingungen so ändern zu wollen, dass sie einen angemessenen Standard erreichen.
Aber es hilft doch am Ende nichts, wenn man hier und dort mal hilft, die Strukturen aber letztendlich dieselben bleiben.
Ja, deshalb müssen wir auch Strukturen verändern. Aber immer nur zu kritisieren, das bringt nichts. Man muss politische Hebel ansetzen. Mir ist es selber durch Engagement im Bundesfachausschuss für Gesundheitspolitik gelungen, ein Hygienegesetz mit auf den Weg zu bringen. Wie oft höre ich: „Wir können doch sowieso nichts machen“. Ja, wenn man so denkt, dann kann man wirklich nichts verändern, wenn man es nicht einmal anpacken will.
Warum stellen Sie Ihr Tun auch in den Rahmen der Kirche? Bewirkt die Kirche wirklich strukturelle Veränderungen für eine gerechtere Welt?
Ich bin aus tiefster Überzeugung Christin. Und dies eigentlich mehr und mehr geworden. Und das bringe ich auch in die Institution Kirche mit ein. Ich würde nie aus der Kirche austreten. Wenn ich glaubte, dass sie nicht den Weg des Evangeliums geht, dann würde ich das innerhalb der Kirche verändern wollen. Ich bin auch begeistert von Papst Franziskus.
Warum Franziskus?
Weil er seinen Weg wirklich überzeugend in der Nachfolge Jesu gehen möchte. Aber auch an unserer Kirche finde ich vieles positiv. Zum Beispiel das Engagement für Flüchtlinge.
Stefanie Hempel