Helga Rodenbeck
Liebe Helga Rodenbeck, seit 21 Jahren engagieren Sie sich für den „Runden Tisch Blankenese – Hilfe für Flüchtlinge“. Sie sagten mir einmal, dass Sie von dem Wunsch beseelt seien, Leben „retten“ zu wollen. Der Runde Tisch hilft vielen Leben im Jahr. Gibt es ein Schlüsselerlebnis, welches Sie zu diesem Wunsch bewegt hat?
Meine Mutter ist mit mir früher in der Vorweihnachtszeit in die Wohnungen einiger Mitarbeiter meines Vaters gegangen. Dort habe ich oft Armut, aber auch wirkliche Warmherzigkeit erlebt. In dieser Zeit haben wir auch viel über die Probleme dieser Familien gesprochen und ich erlebte, dass meine Mutter sich nicht nur finanziell, sondern in erster Linie auch um die Vermittlung von Hilfe kümmerte. Vielleicht entstand so mein Wunsch und die Freude daran, zu helfen. Als ich 13 Jahre alt war, organisierte meine Mutter für mich ein Praktikum in der Familienfürsorge. So verbrachte ich die Ferien, mit der Fürsorgerin in Familien und Kinderheime zu gehen, und der Wunsch wuchs, Sozialarbeiterin zu werden. Nach meinem Studium arbeitete ich zunächst im Jugendamt Neumünster.
Und danach gibt es hier die Zeit in Blankenese und in Sülldorf.
Ja, einen neuen Anstoß erlebte ich in der Gorch-Fock-Schule. In der Klasse meiner Tochter war ein Mädchen aus Polen. Auf Wunsch meiner Tochter lernte ich die Familie in der Wohnunterkunft Björnsonweg kennen. Ich erinnere mich noch gut an den ersten Besuch: die Tür öffnete sich und sie öffnete sich von Herzen weit! Dann erfolgte später die Abschiebung. Wie meist in der Ferienzeit, in der es Mitmenschen nicht erfahren, „klammheimlich“ – schockierend. Ein nächster Kontakt entstand zu einer Frau aus Iran. Unter anderem mit ihr organisierte ich Kleidersammlungen an der Grundschule und auch am Björnsonweg. Ich hatte Angst vor diesen Abschiebungen und habe mich nur zögerlich dem Thema Flüchtlingsschicksale nähern können. Als bekannt wurde, dass ich ein Studium Sozialarbeit absolviert hatte, erhielt ich eine behördliche Stelle, die ich 18 Jahre innehatte.
Und wie gründete sich der „Runde Tisch Blankenese – Hilfe für Flüchtlinge“?
Vor 21 Jahren entstand in der Straße Ohlwöhren in Blankenese eine Unterkunft für Flüchtlinge. In der Planungsphase gab es massive Proteste dagegen. Zusammen mit Pastor Poehls besuchte ich Bürgerveranstaltungen, um mich für die Flüchtlingsunterbringung einzusetzen. So fing alles an, so begann der „Runde Tisch Blankenese“. Mittlerweile haben wir ca. 30 Mitglieder, die sich je nach Zeit und Präferenzen mit ihrer Hilfe engagieren. Wir sind ein Kreis, der sich aus „allen“ Menschen zusammensetzt, unabhängig von einer Konfession. Eng verzahnt mit Beratungsstellen und Netzwerken leistet der Runde Tisch Blankenese praktische Hilfe für Flüchtlinge. Er unterstützt und begleitet bei Behörden-, Rechtsanwalts- und Arztbesuchen, bietet vielfältige Projekte, auch Bildungsangebote an, und organisiert Sachspenden.
Ich war in der letzten Woche mit einem Flüchtling in der Ausländerbehörde und musste nach einer geradezu brutalen Behandlung vor der Tür das Weinen vor Entsetzen unterdrücken, wie schaffen Sie das?
Ich muss es schaffen, ohne zu sehr zu leiden. Was mir nicht immer gelingt. Sehr hilfreich ist hier mein Glaube.
Aber ist es nicht so, dass Sie auch immer wieder Menschen in Hilflosigkeit und Verzweiflung entlassen müssen?
Ich versuche, das zu verhindern, das ist meine Aufgabe. Ich versuche, den Flüchtlingen einen Weg zu weisen, wie sie am besten in diesem System überleben können. Das ist wirklich schwer. Ich erinnere mich nur an 3 Fälle, wo es relativ einfach war. Bei allen anderen war es ein Kampf. Und oft waren wir nur mit Hilfe von Anwälten und andere Beratungsstellen erfolgreich. Unsere Gesetze empfinde ich als hart und inhuman. Sie lassen Menschen verzweifeln und nehmen ihnen die Würde. Ich kenne die „Nöte der Nacht“ dieser Menschen nicht, aber am Tage versuche ich ihnen zu sagen, dass es eine Hilfe gibt. Und ich habe häufig eine Möglichkeit gefunden, welche die Flüchtlinge vor einer Abschiebung im Morgengrauen in ein Nichts bewahrt hat.
Der Mensch, den ich in die Ausländerbehörde begleitet habe, ist krank geworden, wahrscheinlich ausgelöst durch ein Trauma.
So geht es vielen. Es sind die Jahre der Angst vor der Abschiebung im ständigen unsicheren Zustand der „Duldung“. Sie erkranken psychisch aber auch physisch während den langen Jahren der Unsicherheit. Davor kann ich sie nicht bewahren. Ich kenne solche, die auch nach Jahren, selbst wenn sie dann nach langer Zeit – 15 oder 18 Jahren – endlich eine Sicherheit ihres Aufenthaltes erlangt haben, immer noch Lebensangst haben. Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass sie oft auch dann noch rassistischen Anfeindungen ausgesetzt sind.
Mit einigen Jahren Abwesenheit habe ich seit 1977 in Blankenese immer eine „Parallelgesellschaft“ mit den Flüchtlingen erlebt. Man sah sie mal kurz auf ihrem Weg zum Björnsonweg oder später in der Buslinie 1 Richtung Sieversstücken. Die waren nie Mitmenschen im täglichen Leben.
Nein, das sind sie auch nicht. Es gibt nur sehr wenige, die sich um den Kontakt bemühen. Sie dürfen nicht als Ausnahmeerscheinung wahrgenommen werden. Wir sind Menschen einer Welt, wir haben keine zweite. Ich bin mir nicht sicher, in wieweit die Flüchtlinge den so genannten ersten Schritt gehen können, der von ihnen oft erwartet wird. Sie sind verängstigt in einer fremden Welt, die sie als ablehnend erleben müssen. Ich glaube, dass wir diesen ersten Schritt gehen sollten. Einst grüßte ich einen Afrikaner auf der Blankeneser Landstraße, und er hielt inne mit den Worten, dass er das vorher nicht erlebt habe. Er habe zwar zuvor den Versuch gemacht, Menschen zu grüßen, allerdings habe er nie eine Antwort bekommen.
Ich habe 3 Jahre in Afrika gelebt und manchmal erfahren, auf Materielles „reduziert“ zu werden. Ich dachte, ich hätte Freunde, aber am Ende wollten sie nur einen Fernseher oder anderes von mir. Aber hier erging es mir in den Kontakten nie so.
Nein, das habe ich auch nicht erfahren – im Gegenteil. Diese Menschen möchten immer viel zurückgeben. Man muss nur einmal hinsehen, was sie erlebt und durchgemacht haben. Mich hat es Demut gelehrt. Auch jetzt, bei dem Gedanken an die Flüchtlinge, die in Lampedusa anlanden oder auf dem Meer sterben müssen. In was für einer Sicherheit leben wir! Anders kann wohl keiner empfinden, der ein Mal von den Erlebnissen dieser Flüchtlinge und dessen, was sie zu der verzweifelten Flucht bewegt hat, aus ihrem Munde hörte. Es ist unvorstellbar, was diese Menschen ausgehalten haben
Aber wir hier haben Angst vor der „Flüchtlingsinvasion“. Es ist die natürliche Angst vor dem Fremden.
Die gilt es abzubauen. Je eher wir den Zugewinn durch diese Menschen begreifen, desto besser. Ich fühle mich so bereichert durch die Flüchtlinge und so könnte es auch unserer Gesellschaft ergehen – wir leben doch sowieso ökonomisch in den Vorteilen der Globalität, warum nicht auch dieser Schritt, der sich sowieso langfristig nicht vermeiden lässt, so lange der Reichtum einerseits und die Armut andererseits zunimmt. Diese Menschen helfen auch sehr, den kulturellen Reichtum dieser Welt zu erleben.
Und hier, in Blankenese?
Mich motiviert und bereichert auch vieles hier: vor einigen Tagen erhielt ein Flüchtling mit unserer Hilfe diverse Möbel für seine neue Wohnung. Lauthals rief er am Telefon seinen Dank „Ich fühle mich wie ein König in seinem Königreich“. Und er meinte es ernst, es war keine Floskel. Das ist meine Freude. Auch die Frage „wie geht es Dir“, ist so von Herzen ernst gemeint und manchmal werde ich geradezu ungeduldig, denn ich will es nur kurz – wie gewohnt – beantworten, aber sie wollen wirklich eine genaue Version meines Befindens hören.
Und plündern diese Menschen nicht unsere Sozialkasse, wie wir so oft hören?
Es ist nicht meine Art, so zu empfinden. Für mich ist es ein Kreis: ich gebe etwas und ich bekomme etwas. Beides ist der Gewinn meines Lebens, es ist keine Aufrechnung, keine Bilanz. Und einer Gesellschaft würde es genauso gehen, würde sie es annehmen. Es ist der einzige positive und gangbare Weg. Ich bin beschämt bei dem Gedanken, dass Menschen so empfinden können: so oft helfen mir Flüchtlinge, weil sie sich dringend nützlich machen möchten in dieser neuen Umgebung. Dass sie nicht arbeiten dürfen, ist für sie ein Leid, denn sie möchten in dieser neuen Heimat helfen und es wird ihnen verboten. Das quält sie, denn es lässt sie sich als wertlos empfinden.
Zweifeln Sie manchmal an der Notwendigkeit so einer Flucht und der damit verbundenen Notwendigkeit der Aufnahme in unsere Gesellschaft?
Nein nie. Wer verlässt seine Heimat mit dem Risiko, diese Flucht nicht zu überleben und wer verlässt seine Familie meist auch aus Ländern, in denen die Familie der einzig lebenswichtige Kontext des Lebens ist.
Und gibt es eine Heimat in der Kirchengemeinde für Ihr Anliegen und das dieser Menschen?
Ja. Ich habe mein Büro für die Flüchtlingsberatung in dem Pastorat Poehls. Die Themen der Flüchtlinge werden in der Gemeinde in vielfältiger Hinsicht aufgenommen, so mit Kollekten, Hilfsgütern und Veranstaltungen.
Aber das reicht sicher nicht und Sie benötigen mehr Hilfe.
Ja, wir würden uns über noch mehr Hilfe sehr freuen.