Hiltrud Klose
Liebe Hiltrud Klose, für mich ist Ihre Buchhandlung auch immer so ein kleiner Ort der „Seelsorge“. Geht das anderen auch so?
Ja, und ich merke gerade in der heutigen Zeit der Digitalisierung die Bedürftigkeit der Menschen. Sie kommen rein und fragen nach einem Buch und wollen reden. Nun kennen wir nach zwölf Jahren natürlich 90 Prozent der Kunden, es entsteht ein vertrautes Verhältnis. Bücher sind auch etwas Intimes. Kommt jemand und möchte seinem Mann ein Buch schenken, dann muss etwas über den Mann erzählt werden. Oder wir kommen ins Gespräch über das, was gelesen wurde, und damit auch in den Bereich von Gefühlen. Hier werden menschliche Bedürfnisse ausgetauscht. Es ist ein Geben und Nehmen, denn genauso erhalte ich Verständnis, wenn hier einmal etwas schief geht. Mir geht es ja auch nicht immer gut.
Hat sich die politische Stimmung hier im Laden in den letzten Jahren verändert?
Erschreckend die Zahlen der AfD. Aber hier merken wir davon nichts. Das ist sicherlich anders in anderen Stadtteilen, in denen die Menschen auch mehr tägliche Begegnungen mit geflüchteten Menschen haben. Wir sprechen hier über Politik und alle möglichen Fragen des Lebens. Mir kommt es darauf an, dass man sich austauscht. Bei wichtigen Themen sagen wir Mitarbeiter hier auch, was wir denken, und grenzen uns gegen rassistische Bewegungen ab. Ich habe Schwierigkeiten, mit Büchern Geld zu verdienen, die Hass säen. Das haben wir hier aber zum Glück nur sehr selten. Kunden berichten von den Erfahrungen an Gastfreundschaft und herrlichem Abenteuer in ihren Urlaubsländern, aber wenn Menschen dann aus Not hier sind, dann ist es nicht mehr toll. Das kann ich nicht verstehen.
Was halten Sie von der „Kirche im Dorf“?
Ich finde diese Kirche sehr wichtig, weil sie alle begrüßt, die zu ihr kommen – und dies unabhängig von der Religion. Hier muss man nicht den Taufschein vorzeigen, hier scheint jeder akzeptiert zu sein. Sie veranstaltet viel, sei es der Gottesdienst oder die GemeindeAkademie, mir der wir ja zusammenarbeiten. Das ist genau das, was eine Kirche leisten sollte: Menschen zusammenführen und zur Diskussion ermuntern. Und dann bei einem Glas Wein reden. Und dann die Weltethos-Bewegung und das Engagement von Helga Rodenbeck und Pastor Poehls mit dem Runden Tisch, Hilfe für Geflüchtete. Wie viel Kraft sie dort hineinstecken!
Welcher Glaube treibt Sie an?
Ich bin nicht getauft. Meine Eltern haben uns die Freiheit lassen wollen, uns selbst zu entscheiden. Für mich war früh klar, dass Religion – wie auch immer – zum Menschsein gehört. So erklärten sich die Menschen von einst Erdbeben und Gewitter. Ein Mensch braucht etwas wie Religion. Ich bin lange mit einer Pastorin befreundet gewesen, wir haben nächtelang diskutiert und dabei eigentlich immer das Gleiche gemeint, nur unterschiedliche Vokabeln benutzt. Ich beschäftige mich mit Religion. Es ist mir egal, was sich ein Mensch als Religion ausgesucht hat. Ein Mensch braucht Werte und die sucht er sich, um mit einem durchaus schwierigen Leben klarzukommen. Es hängt auch davon ab, wie Menschen sich selber respektieren und schätzen. Das Verständnis von sich selbst ist die Basis dafür, anderen Menschen respektvoll gegenüber zu treten.
Woran denken Sie, wenn Sie von Jesus hören?
Ich denke an den Menschen Jesus, an den Revolutionär. An den, der anderes wollte. Ich denke nicht an jemanden, der über das Wasser ging und Wunder tätigte, sondern an einen Menschen, der Gutes für die Menschheit wollte. Jemand, der sich um die Menschen kümmerte, die am Rande der Gesellschaft standen und der sie respektierte. Was mir gerade dazu einfällt: In europäischen Kulturen sieht der Jesus in den Kirchen immer leidend aus. Ich sah einmal eine Jesus-Figur in Mexiko, und das war ein schöner, junger, strahlender Mann. Bei uns hier scheint immer das Leiden im Vordergrund zu stehen. Aber Jesus hat nicht für mich gelitten, er hat für seine Idee gelitten. Ich finde übrigens, das Alte Testament ist eines der spannendsten Bücher, die ich je gelesen habe. Dort kommt alles vor, was uns ausmacht: Mord, Eifersucht, Leidenschaft, Liebe. Bertolt Brecht hat es für die Themen seiner Theaterstücke benutzt. Mit dem Neuen Testament habe ich Schwierigkeiten. Dort wird der „gute Mensch“ gefordert, und ich sehe eher die erhobene Hand, was erlaubt ist und was nicht zu sein hat.
Wie empfinden Sie die Ortsgemeinde aus dem Blickwinkel Ihres Buchladens?
Als sehr offen und bereit, über viele Themen zu sprechen. Und ich empfinde es nicht so, dass Menschen sich hier als Nabel
der Welt sehen. Ich erlebe gerade auch unter den Älteren viele, die teilen und sich für die Belange anderer einsetzen.
Welche Bücher haben für Sie eine immerwährende Bedeutung?
Das kommt auf die Lebenssituation an. Für mich war es als Zwanzigjährige Max Frisch, weil er mich zum Nachdenken brachte. Und natürlich „meine“ Christa Wolf mit „Nachdenken über Christa T.“, „Kassandra“, „Kein Ort nirgends“, weil auch sie meine Gedankenwelt öffnete. Und die Frühromantik, in der schreibende Frauen neben schreibenden Männern standen. Eine Zeit, in der Zusammenleben versucht wurde, „WG“, in der das Private nicht vom Beruflichen getrennt wurde, in der das Fragment und nicht das Vollkommene gesucht wurde.
Wovor haben Sie Angst?
Ich habe in meiner Jugend und in meinem Erwachsenenleben das Schaffen von Öffnungen und Verständigungen erlebt, so Israel-Deutschland, BRD-DDR, 1989, Ende des Kalten Krieges etc. Ja, und heute werden wieder Mauern gebaut. Das macht mir Angst.
Ich habe auch Angst davor. Danke.
Sefanie Hempel