"Durchbohrt von allen Geschossen der Welt"

Literaturmuseum der Moderne in Marbach zeigt Kriegstagebücher aus dem Ersten Weltkrieg
Kein Fenster, kein Ausblick. Es ist totenstill. Die Ausstellung ist abgedunkelt. Nur hunderte weißer Blätter mit Bleistiftnotizen oder schwarzer Tinte schweben lautlos im Raum, ausglegt in durchsichtigen Glasvitrinen. In gedämpftem Licht präsentiert das Literaturmuseum der Moderne in Marbach am Neckar die Ausstellung: August 1914. Literatur und Krieg". Die Erschütterung kommt beim Lesen. Den Zeilen entsteigt ein tosendes Inferno: "Die Straßen stinken nach Pferdeleichen, die Häuser verbrannt, oder in unglaublicher Weise verwüstet, Felder zerstrampelt, alles beschmutzt und verdorben". Das notiert Wilhelm Klemm, 20 Jahre alt, am 20. September 1914 aus Sainte-Marie-A-Py nach der verlorenen Schlacht an der Marne in sein Tagebuch. Mehrere hundert Tagebücher und persönliche Briefe aus den Kriegsjahren 1914 bis 1918 sind hier ausgestellt. Jeder Brief ist ein persönlicher Erfahrungsraum, alle gemeinsam sind sie eine vielstimmige Darstellung des ungeheuren Krieges, der erstmals Materialschlachten gegen Menschenheere einsetzte: Artillierie, Panzer, Gas, Bomben aus der Luft.
"Deutschland hat Russland den Krieg erklärt. - Nachmittag Schwimmschule" notiert Franz Kafka, 31jährig, am 2. August 1914 in Prag.
"Vorlesung am Vorabend abgesagt. Morgens Einkäufe: Revolver." So beginnt der 30jährige Elsässer Ernst Stadtler am 31. Juli 1914 sein Kriegstagebuch. In Oxford studiert, Lehrauftrag über moderne Lyrik in Straßburg, jetzt ein Ruf an die Universität Toronto: Aus der Traum. Stadtler hat seinen Stellungsbefehl als Reserveleutnant erhalten. Der Weltkrieg beginnt.
Drei Forschungsbibliotheken haben aus ihren Archiven persönliche Dokumente aus dem Ersten Weltkrieg zusammengestllt: Das Deutsche Literaturarchiv Marbach, die Bodleian Libraries der Universität Oxford und die Bibliothèque nationale et universitaire de Strasbourg.
Die Texte kommen aus Berlin, Ostende, Straßburg, Pontresina, Leipzig, von der Ostfront, aus Verdun. Schriftsteller sind darunter. Ernst Jünger schreibt mit Bleistift, Theodor Heuss, der spätere Bundespräsident, mit zierlichem Tintenstrich in deutscher Schrift, Arthur Koestler schreibt großzügig und ruhig, Else Lasker-Schueler bis an den Rand mit Bleistift. Franz Kafkas Buchstaben sind rund und temperamentvoll verbessert.
Am 2. August 1914 notiert Werner Picht, Experte für englische Sozialreformbewegung, in Ulm: "Russland und Frankreich allein haben etwa sieben Millionen Soldaten. Es werden etwa 17 Millionen gegeneinander kämpfen. Die Weltgeschichte hat nie etwas entfernt Ähnliches gesehen."
Das Literaturmuseum Marbach zeigt, wie schon 1914 die anfangs euphorische Stimmung kippt. Bald notiert Picht in Frankreich: "Heute habe ich mir die Haare schneiden lassen - in der Kirche von Warneton. Ein schauderhaftes Bild - der verwüstete Altar, die zerschossenen oder durch die Erschütterung zertrümmerten Fenster, der Boden mit Pferdemist bedeckt, auf den Stufen zum Altar lagerten die Soldaten. An einem Beichtstuhl steckte ein Schild ‚Zum Frisör’."
Die Datierung der Briefe und Tagebücher erlaubt eine Collage unterschiedlicher Meinungen an deinem einzigen Tag. Nicht alle schreiben begeistert. Gustav Sack, 28jährig, notiert schon 1914: Den Krieg mache ich nicht mit, da mögen andere, alle, sagen, was sie wollen." der Rheinländer Sack möchte mit seiner Fau in das neutrale Dänemark ziehen. Stattdessen wird er eingezogen und fällt 1916 in Rumänien.
"Mein Herz ist so groß wie Deutschland iund Frankreich zusammen, durchbohrt von allen Gechossen der Welt" notiert Wilhelm Klemm am 20. September 1914 über die Schlacht an der Marne". Und im November 1918 notieren erschöpfte Menschen: "Novemberrevolution".
Cornelia Strauß
Literaturmuseum der Moderne, Schillerhöhe 8-10, 71672 Marbach am Neckar. Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag, 10-18 Uhr. Ausstellung bis 21. April 2014. - Anschließend werden Teile der Ausstellung, verbunden mit jeweils einigen Schwerpunkten, in Oxford (Großbritannien), dann in Straßburg (Frankreich) gezeigt. www.dla-marbach.de
Cornelia Strauß