Heinrich Erdmann. „Zarathustra ist tot“.

13.06.2014 | 17:18

Paradigmenwechsel der Deutung unseres Erkenntnisvermögens und seine Konsequenzen.

Zarathustra: das ist für Heinrich Erdmann der Name für fundamentalistisches Denken in allen Wissens-, Forschungs- und Lebensbereichen. Und Zarathustras Totengräber ist der Konstruktivismus. Seine Einschätzung ist eindeutig: „Niemand, der sich mit Fragen der Erkenntnis auseinandersetzt, wird […] künftig an der konstruktivistischen Sicht und Deutung unseres Erkenntnisvermögens mehr vorbeikönnen.“ (S. 11)
Nun ist es heute riskant, über „den Konstruktivismus“ zu sprechen. Zum einen gibt es kein geschlossenes Lehrgebäude namens „Konstruktivismus“, sondern bestenfalls einen durchaus heterogenen Diskurs dieses Namens. Zum anderen gibt es durchaus unterschiedliche Begründungsstrategien für konstruktivistische Argumentationen, die von der Biologie bis zur Philosophie reichen. Beides macht eine plausible Rekonstruktion konstruktivistischer Argumente schwierig, und der Autor ist sich dessen wohl bewusst.
In dieser Situation trifft Erdmann eine wichtige und nachvollziehbare Entscheidung: Er konzentriert sich auf Autoren wie Maturana, Varela und von Glasersfeld (ohne andere auszuschließen), und er konzentriert sich auf biologische Plausibilisierungen (nicht etwa Beweise) für bestimmte Argumentationsstrategien. Dabei stehen folgende Argumente im Zentrum: Eine Fülle von biologischen Beobachtungen legt die Konsequenz nahe, dass alle unsere Erkenntnisse bezogen sind auf und begrenzt durch die Beschaffenheit unseres Erkenntnisapparats. Mit anderen Worten: Sie sagen nichts aus über „die Wahrheit“ oder das „ontische Sein“, sondern nur etwas über uns; und unser Erkenntnisapparat ist ein Instrument zur Sicherung unseres Überlebens und nicht zur Generierung von objektiven also von uns unabhängigen Erkenntnissen über „die Realität“.
Dieser Duktus der Argumentation führt Erdmann direkt zur von Glasersfeld’schen Kategorie der Viabilität, wobei Viabilität bedeutet, „…dass sich unsere Erkenntnisse am einzig sicheren und unabdingbaren Kriterium unserer Existenz messen müssen, nämlich am Leben selbst.“ (S. 205) Dieser Grundgedanke zieht sich durch das gesamte Buch Erdmanns. Er wird erprobt im Hinblick auf die biologischen Grundlagen der Erkenntnis, im Blick auf Wissenschaft und Philosophie, auf Religion und Ethik. Und immer lautet der Tenor der Argumentation, dass man nach dem Ende der Forderung nach Objektivität, Wahrheit und universalen Theorien und Erklärungen sinnvoller Weise nur danach fragen kann und sollte, was eine Theorie, eine Erklärung, eine Fragestellung und Antwort sowohl für das Leben des Einzelnen als auch für das Leben der Gesellschaft an vernünftigen, kommunizierbaren und vor allem auch revidierbaren Problemlösungen zu bieten hat.
Für Erdmann bietet dieser Kerngedanke konstruktivistischen Argumentierens - und zwar nur in Verbindung mit dem Begriff der Viabilität - das Modell für eine kopernikanische Wende in Wissenschaft, Philosophie und Religion, wobei sich diese Wende nicht nur durchaus vereinbaren lässt mit der Denkweise, die schon I. Kant – allerdings reichlich folgenlos – mit eben diesem Begriff bezeichnet hatte, sondern Erdmann setzt gedanklich konsequent weiter fort, was Kant in Bezug auf unser ethisches Handeln gewissermaßen nur modellhaft angedeutet hat. Für ihn ist klar, dass damit ein Paradigmawechsel der Deutung unseres Erkenntnisvermögens eingeleitet ist, an dem heute kein Weg mehr vorbeiführt, und der bedeutet: Wir müssen uns abfinden mit der unentrinnbaren Selbstbezüglichkeit unseres Erkennens.
Diese Einsicht stimmt überein mit konstruktivistischen Varianten, die nicht mit biologischen Argumenten operieren, sondern konsequent die Beobachtergebundenheit aller menschlichen Handlungen i. w. S. ernst nehmen.
Die Einsicht in die Selbstbezüglichkeit unseres Erkennens hat Konsequenzen, die unser bisheriges Weltbild verändern. Sie zeigen wichtige neue Perspektiven auf und sie lösen manche Widersprüche, mit denen sich unser Denken bisher vergeblich abgemüht hat, oder sie lassen diese Widersprüche zumindest in einem neuem Licht erscheinen. Die unentrinnbare Selbstbezüglichkeit des Erkennens hat damit nicht nur Bedeutung für das Verständnis unseres ethischen Handelns, sonder sie hat auch - und das ist für manche vielleicht überraschend und irritierend - unausweichliche Konsequenzen für die Deutung und Bewertung jeglicher Wissenschaft. Sie berührt und verändert damit die Stellung und Deutung jeder Wissenschaft, einschließlich der Naturwissenschaften in unserem Weltbild ebenso, wie sie andererseits auch die Deutung und Bedeutung von Religionen und von religiösem Glauben verändert.
Diese Zusammenhänge und ihre Konsequenzen wurden zum ersten Mal so klar erkannt und so eindrucksvoll und überzeugend beschrieben. Aufgabe wird es jetzt sein, die Konsequenzen dieses Paradigmas der Selbstbezüglichkeit für jedes einzelne Gebiet des menschlichen Erkennens auf ihre Plausibilität und Tauglichkeit zu befragen und damit die Fruchtbarkeit und Nützlichkeit des neuen Paradigmas auszuloten.
Erkenntnis hat „viele Sprachen“ in verschiedenen Kontexten und zu verschiedenen historischen Zeiten. Zwischen diesen Sprachen kann nicht nach Kriterien objektiver Wahrheit oder Falschheit entschieden werden, sondern durch kritische und aufrichtige Kommunikation, die nach viablen Lösungen sucht. Dabei ist Bescheidenheit angesagt – wie bekannt eine schwierige Tugend. Das zeigt sich sehr deutlich in den Überlegungen zu Religion und Moral, in denen nicht etwa eine endgültige, unumstößliche und für alle Zeiten gültige Lösung gesucht wird, sondern deutlich gemacht wird, dass nur ein verantwortungsvolles Abwägen verschiedener Argumentationen im Hinblick auf eine viable Problemlösung angesichts unserer menschlichen Erkenntnismöglichkeiten akzeptabel ist.
Die Tugend der Bescheidenheit ist dem Autor dieses Buches uneingeschränkt zu bescheinigen. Seine Darstellung konstruktivistischer Essentials ebenso wie seine Auseinandersetzung mit kritischen Einwänden ist zurückhaltend, präzise und kritisch, aber auch durchaus engagiert aus Sorge um die Zukunft der künftigen Gesellschaften. Damit realisiert der Autor, was er unter seinem Leitbegriff ‚Viabilität‘ theoretisch postuliert: das Ziel, vernünftige Problemlösungen für relevante Fragen zu erarbeiten, ohne fundamentalistische Ansprüche durchsetzen bzw. beanspruchen zu wollen.
Für Erdmann ist Zarathustra tatsächlich gestorben, und zwar aus guten Gründen.
Sein Buch liefert ein eingehendes Plädoyer für die Bedeutsamkeit und die Aktualität konstruktivistischen Denkens. Es lohnt sich daher für Philosophen wie für Wissenschaftler aller Disziplinen, aber auch für jeden, der sich für Fragen unseres Erkenntnisvermögens interessiert, dieses Buch zu lesen und in der Praxis ernst zu nehmen.

Univ. Prof. Dr. Dr. h.c. Siegfried J. Schmidt


Siegfried J. Schmidt, geb. 1940 in Jülich, studierte Philosophie, Germanistik, Linguistik, Geschichte und Kunstgeschichte in Freiburg, Göttingen und Münster. Promotion 1966 über den Zusammenhang zwischen Sprache und Denken von Locke bis Wittgenstein.1965 Assistent am Philosophischen Seminar der TH Karlsruhe, 1968 Habilitation für Philosophie, 1971 Professor für Texttheorie an der Universität Bielefeld, 1973 dort Professor für Theorie der Literatur. Seit 1979 Professor für Germanistik / Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität-GH Siegen, ab 1984 Direktor des Instituts für Empirische Literatur- und Medienforschung (LUMIS) der Universität Siegen. 1997 Professor für Kommunikationstheorie und Medienkultur an der Universität Münster. Seit 1997 Direktor des Instituts für Kommunikationswissenschaft.

„Zarathustra ist tot. Paradigmenwechsel der Deutung unseres Erkenntnisvermögens und seine Konsequenzen.“
Erschienen im Novum Verlag | ISBN 978-3-85022-963-0.               
Das Buch kann über den Buchhandel oder im Internet, z.B. bei Amazon bestellt werden. Preis: 16,40 €

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