Reminiszere Fastenpredigtreihe: Kol 3, 14

21.02.2016 | 14:05

„Über alles aber zieht an die Liebe, denn sie ist das Band der Vollkommenheit.“ -  Kolosser 3, 14
Über die Menschen- und Gottesliebe in der Tiefenpsychologie von Alfred Adler.

Thomas Roth, Psychologe

Liebe Gemeinde,

es geht in meiner Predigt um die Sehnsucht des Menschen nach Gemeinschaft und um die Hindernisse, die das Finden von Gemeinschaft heute schwierig machen.

Ich beginne mit einer Textstelle aus dem Brief des Paulus an die Kolosser, die sich wie eine Anleitung für das Gemeinschaftsleben liest:

So zieht nun an als die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld; und ertrage einer den andern und vergebt euch untereinander, wenn jemand Klage hat gegen den andern; wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr! Über alles aber zieht an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit. Und der Friede Christi, zu dem ihr auch berufen seid in einem Leibe, regiere in euren Herzen; und seid dankbar. (Kol 3, 12-17)

Paulus beschwört in diesem Text die Gemeinschaft der damals noch überschau-baren Christengemeinde: Ihr seid berufen in einem Leibe, dessen Haupt Christus ist. Ihr sollt zusammen halten! Nur gemeinsam seid ihr stark! Und er benennt die gelebten Werte, die eine starke Gemeinschaft möglich machen. Das Bild der Kleidung, des sich Neu-Ankleidens, das er verwendet, bezieht seinen Reiz daraus, dass die Beziehung deutlich wird, in der die aufgeführten Tugenden zueinander stehen. Ich kann mir vornehmen, freundlich, sanftmütig und geduldig zu sein, aber diese Kleidungsstücke werden rasch von mir abfallen, wenn sie nicht vom Gürtel der Liebe zusammen gehalten werden, denn die Liebe ist, das wissen wir auch aus dem Korintherbrief, für Paulus, für uns Christen überhaupt, die gemeinsame Wurzel aller sozialen Tugenden.

Klar, werden Sie denken. Die Liebe ist der Schlüssel für Gemeinschaft. Das war vor 2000 Jahren so. Und das gilt auch heute noch. Das wissen wir nicht nur aus der Bibel, sondern auch aus den unzählig vielen Liebesgeschichten, mit denen wir Tag für Tag unterhalten werden, in Büchern, Filmen, Zeitschriften und in der Werbung. Denken Sie an den Weihnachtsclip von Edeka, der bei YouTube 50 Millionen Mal angeklickt wurde. Die Aufforderung zur Liebe verfolgt uns auf Schritt und Tritt, auch wenn wir keine Kirchgänger sind.

Obgleich wir alle ständig zur Liebe gemahnt werden, gibt es vermutlich kaum jemanden unter uns, der sich nicht mehr Gemeinschaft wünscht. Die Suche nach Gemeinschaft ist auch das Thema, das in den vertraulichen Gesprächen mit meinen Klienten den größten Raum einnimmt. Um welches Lebensproblem es auch geht: Fast immer geht die seelische Not, in welchem Gewand sie auch daher kommt, mit dem Gefühl der Einsamkeit einher. Einsamkeit - so mein Eindruck - ist eine der Geißeln unserer Zeit. Woran liegt das? Wieso fällt es vielen so schwer, Gemeinschaft zu finden?

Ich will Ihnen dazu eine Geschichte erzählen:

Inge, Maria, Horst und Josef, allesamt Singles in meinem Alter, haben einen gemeinsamen Traum. Sie fürchten sich vor der Einsamkeit im Alter und wollen ihren Lebensabend gemeinsam verbringen, in einer Art Alten-WG, einer ganz persönlichen Seniorenresidenz. Sie träumen von einem schönen alten Haus irgendwo auf dem Land, mit einem großen sonnigen Garten, in dem sie ihr eigenes Obst und Gemüse züchten. Auch die Tiere dürfen nicht fehlen. Horst schwärmt von einem Esel, Maria und Inge bringen ihre Katzen mit, Josef seinen Hund, und ein paar Hühner gehören auch dazu.

Die Voraussetzungen sind gut, denn die vier kennen sich seit vielen Jahren und sind sich herzlich zugetan. Aber die Suche nach einem geeigneten Objekt gestaltet sich schwierig, schon der geforderten Größe wegen. Denn zwei Zimmer für jeden, das ist Minimum, wo will man sonst mit den vielen Möbeln hin. Und jeder braucht sein eigenes Bad denn ein Rest an Intimität muss sein, meint Inge, und die anderen stimmen ihr zu. Eine große Wohnküche für alle, ja, damit ließe sich leben, aber natürlich nur mit getrennten Kühlschränken, schränkt Horst ein.  In der Mitte der Küche, so die einvernehmliche Vorstellung, steht ein Eichentisch, so groß, dass auch die Gäste daran Platz finden. Apropos Gäste, ergänzt Inge, wir brauchen auch Gästezimmer, vielleicht ebenfalls drei oder vier an der Zahl. Auch der Garten muss groß genug sein, sagt Josef. Mit einem Schattenplätzchen für jeden. Unter dem eigenen Lieblingsapfelbaum. Was ist mit den Autos, fragt Josef weiter? Wir brauchen doch keine vier, oder? Mein Auto ist das letzte, worauf ich verzichten würde, entgegnet Maria. Die Freiheit nehme ich mir. Sonst fühle ich mich eingesperrt. Und das klingt für die anderen irgendwie nachvollziehbar.

Das Gespräch fand vor Jahren statt. Seitdem sind die vier auf der Suche. Einmal wären sie fast fündig geworden. Ein altes Gutshaus, in der Nähe von Uelzen, das per Internet feilgeboten wurde, in einem weitläufigen Park mit altem Baumbestand, nahezu perfekt und ideal, doch mit einem entscheidenden Haken. Es lag weitab von der nächsten Autobahn.

Also suchen die vier weiter. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann suchen sie noch heute.

Unsere kleine Geschichte spricht für sich. Meine vier Altersgenossen wollen der Einsamkeit entfliehen, aber in demselben Maße, in dem sie sich Gemeinschaft wünschen, fürchten sie auch einen Verlust. Wer sich in Gemeinschaft begibt, muss auch etwas aufgeben, nicht nur ein paar Möbel, nicht nur ein paar liebgewordene Gewohnheiten, sondern damit auch einen Teil seiner liebgewordenen Identität, des vertrauten Bildes, das man sich von sich selbst und dem eigenen Leben macht. Wenn mir die anderen zu sehr auf die Pelle rücken, kann ich nicht mehr ich selbst sein, so die Befürchtung! Dann wird die fehlende Autobahn zum entscheidenden Hindernis. Eine WG ohne Autobahnanschluss, ohne die Möglichkeit, rasch wieder das Weite zu suchen: Das geht gar nicht!

Die Angst vor Identitätsverlust hat für die Menschen zu Zeiten des Paulus kaum eine Rolle gespielt, weil sie es gewohnt waren, in Gemeinschaft zu leben und weil sie wussten, dass sie auf die Gemeinschaft angewiesen sind. Heute ist das anders. Diese Entwicklung ist vergleichsweise neu. Sie hat sich in den letzten 50 Jahren vollzogen.

Wir, damit meine ich meine Altersgenossen und mich, sind die erste Generation, die mit dem Ideal der Selbstverwirklichung aufgewachsen und alt geworden ist. Die Generation unserer Mütter und Väter, noch mehr die unserer Großeltern waren in eine Welt hineingewachsen, in der vieles vorbestimmt war, durch den Ort der Geburt, den sozialen Status, den Beruf der Eltern und durch soziale und kulturelle Normen, an die sie sich ganz selbstverständlich angepasst haben.

Aber wir sind in Freiheit geboren. Wir leben heute in einer Welt der unbegrenzten Möglichkeiten, die uns täglich neue Entscheidungen abverlangt. Große Entscheidungen: Welchen Beruf will ich ergreifen, wie stelle ich mir meine Karriere vor, will ich einer Partnerschaft leben, will ich Kinder haben, wo will ich leben An wen und was will ich glauben? Kleinere Entscheidungen: Wie kleide ich mich, wie richte ich mich ein, wie gestalte ich meinen Garten, welches Auto fahre ich, welche Literatur lese ich, will ich segeln oder golfen, backen oder töpfern? Bis hin zu kleinsten Entscheidungen: Welche meiner Urlaubsfotos poste ich bei Facebook?

Und bei jeder neuen Entscheidung stelle ich mir notgedrungen die Frage: Was ist für mich die richtige Wahl? Was passt zu mir? Was will ich eigentlich? In früheren Zeiten war die Entwicklung von Persönlichkeit ein hehres Ideal. Heute ist die Persönlichkeitsentwicklung zur Pflichtübung für uns alle geworden. Wir sind tagtäglich damit beschäftigt, unsere Identität zu formen und nach außen zu tragen, denn unsere Einzigartigkeit zeigt sich immer nur im Vergleich mit anderen.

Der ständige Entscheidungs- und Positionierungsdruck zeitigt Folgen. Erstens: Er macht Stress! Die steigende Zahl depressiver Erkrankungen wird von Experten auch darauf zurückgeführt, dass sich immer mehr Menschen von der Selbstfindungs-olympiade überfordert fühlen und mit dem Gefühl aussteigen: Ich schaffe es nicht! Zweitens: Wir sind dabei, uns zu einer Gesellschaft von Individualisten und Einzelgängern zu entwickeln. Unsere Identität ist der Schatz, den wir hüten. Wir fürchten, dass er uns in der Gesellschaft anderer abhanden kommt. Wir sehnen uns nach Gemeinschaft, aber wir haben auch Angst vor ihr.

Die sinkende Attraktivität der Gemeinschaftsidee lässt sich durch Zahlen belegen. Sie manifestiert sich in der wachsenden Zahl der Singlehaushalte, einem geringeren Engagement in Vereinen, in der höheren Zahl der Kirchenaustritte, im Mitgliederschwund der politischen Parteien, nicht zuletzt auch in sinkenden Wahlbeteiligungen.

Das gibt Anlass zur Sorge, nicht nur wegen des Leids derjenigen, die sich einsam und ausgeschlossen fühlen. Wenn Gemeinschaft fehlt, stirbt ein wichtiger Motor für Entwicklung, für die Entwicklung des Einzelnen, auch auch für die Entwicklung der Gesellschaft. Menschen entwickeln sich, weil sie von einer Gemeinschaft, der sie angehören, gefordert und gefördert werden. Die Gesellschaft als Ganzes bewältigt neue Herausforderungen, indem sich Interessengemeinschaften formieren, ihre Positionen austauschen, miteinander streiten und sich dann auf einen gemeinsamen Weg verständigen. Entwicklung braucht Gemeinschaft, auf allen Ebenen.

Der Rückzug in die Privatheit rächt sich spätestens dann, wenn wir vor Heraus-forderungen stehen, die die Gesellschaft als Ganzes betreffen und die wir nur gemeinsam bewältigen können. Zurzeit stehen wir vor so einer Herausforderung. Es geht darum, Millionen von Flüchtlingen nicht nur in unser Land, sondern auch in unser Leben zu integrieren. Das macht Angst! Auch mir! Deutschland: Panikland, hat vor kurzem die ZEIT getitelt. Die grassierende Angst vor Terror, vor sexuellen Übergriffen, vor der Überfremdung unserer Kultur mag im Lichte der Statistik übertrieben sein. Aber die Angst ist da! Aber es war schon immer schwierig, Angst mit rationalen Argumenten zu entkräften.  

Der Psychologe Alfred Adler, ein Zeitgenosse Sigmund Freuds und einer der Mitbegründer der Tiefenpsychologie, hat zwei grundlegende Möglichkeiten beschrieben, wie wir mit Angst und Unsicherheit umgehen können.
Wir können auf persönliche Macht und Kontrolle setzen. Das ist ein Weg, der sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft in eine Sackgasse mündet. Oder - das ist die zweite und bessere Möglichkeit - wir können dadurch Stärke gewinnen, dass wir zusammenarbeiten und den Wert der Kooperation entdecken. Dafür brauchen wir Gemeinschaftsgefühl. Gemeinschaftsgefühl ist für Adler keine vergängliche Emotion, sondern eine geistige Bereitschaft und Haltung, ein Streben nach Gemeinschaft im Wissen darum, dass sich die Aufgaben des Lebens besser in der Kooperation bewältigen lassen. Wer mit den Augen eines anderen sehen, mit den Ohren eines anderen hören und mit dem Herzen eines anderen fühlen kann, der zeichnet sich nach Adler durch Gemeinschaftsgefühl aus.
Der Gewinn, den die Kooperation verspricht, zeigt sich für Adler in der Entwicklungs-geschichte der Menschheit, die sich im Verlauf ihrer Entwicklung immer wieder an veränderte Lebensbedingungen anpassen musste. Diese Anpassung konnte nur dadurch gelingen, dass die Menschen neue Formen der Kooperation entdeckten. Es ist eben nicht so, dass der Stärkste überlebt, wie es Darwin formuliert hat. Zumindest für uns Menschen gilt: Wir überleben, weil wir zusammen halten und zusammen stehen, eine Botschaft, die von der modernen Biologie und Psychologie inzwischen weitgehend geteilt wird.
Was bedeutet das für die Situation, in der wir uns aktuell befinden. Wenn wir uns für den Weg der Kontrolle entscheiden, setzen wir auf die Macht des Staates. Er soll das Problem für uns lösen. Zwischenzeitlich schotten wir uns ab. Wir bleiben in unseren Häusern und wagen uns nur noch mit Pfefferspray auf die Straße. Das kann keine Lösung sein!

Wenn wir den Weg der Gemeinschaft wählen, gewinnt der vielzitierte Satz „Wir schaffen das!“ an Bedeutung, weil ich bemerke, dass auch ich gefordert bin, einen Beitrag zu leisten, in welcher Form auch immer. Das Mindeste, was ich beitragen kann, ist, mich von jeder Form der Stimmungsmache abzugrenzen  

Als ich jung war, hielt ich die Liebesbotschaft des Evangeliums für einen Luxus-artikel, wunderschön, aber eben nur „nice-to-have“. Heute erkenne ich: Es geht nicht um Gefühlsduselei. Liebe ist vernünftig! Was hält Inge, Maria, Horst und Josef, die Protagonisten in unserer Geschichte, davon ab, in diesem Sinne vernünftig zu sein? Angst vor Identitätsverlust. Was ist das für eine Angst?  Wenn ich mich mit anderen vermische, mich mit Ihnen gemein mache, bin ich nicht mehr ganz ich selbst. Lieben heißt immer auch, sich selbst nicht wichtig nehmen und sich fallen lassen. Das macht Angst. Wenn man sich fallen lässt, wünscht man sich, gehalten zu werden. Doch das Spannende ist: Man kann erst spüren, dass man gehalten wird, wenn man fällt. Und das gilt für die Gemeinschaft mit den Menschen genauso wie für die Gemeinschaft mit Gott.

Amen

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