Hesekiel 34, 1-2.10-16.31
Klaus-Georg Poehls
Gnade sei mit Euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.
Liebe Gemeinde!
Ein Wort an Frauen und Männer in Leitungspositionen, ein Mahnwort vor allem an die modernen Hirten in der Politik, aber auch an die modernen Hirten der Wirtschaft, der Bildung und Lehre, der Schulen und Familien.
Alle Menschen in einer Leitungsfunktion, sei sie öffentlich oder privat, sollen sich angesprochen fühlen, seit der Prophet Hesekiel die königlichen Hirten um das Jahr 600 vor Christus öffentlich und heftig anging:
„Du Menschenkind, weissage gegen die Hirten Israels, weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott der HERR: Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden? So spricht Gott der HERR: Siehe, ich will an die Hirten und will meine Herde von ihren Händen fordern; ich will ein Ende damit machen, dass sie Hirten sind, und sie sollen sich nicht mehr selbst weiden. Ich will meine Schafe erretten aus ihrem Rachen, dass sie sie nicht mehr fressen sollen.“
Machtmissbrauch wird angeprangert – und vor ihm Verantwortungslosigkeit. Hätten die Menschen damals auf Hesekiel gehört, wie er vor den königlichen Palästen mahnt und droht, dann wäre vielleicht ein israelitischer Frühling damals möglich gewesen, wie wir ihn heute als arabischen Frühling erleben.
Eine Vision von Gerechtigkeit und Wohlfahrt hat Hesekiel entworfen und von ihr her blickt er auf die konkrete Situation im Land.
Er sieht die Realität und gibt ihr nicht Recht, ja mehr noch und das ist das Entscheidende, das lässt jeden Zynismus und jede Resignation hinter sich: er hält Gegebenes – und scheine es noch so sicher und unwandelbar – für wandelbar.
Wir kommen von Ostern her, wir leben von einem großen Ja Gottes her und darauf hin, das größte und schönste Ja, das wir zugesagt bekommen haben.
Und zu Ostern las ich in DER ZEIT einen wahrhaft österlichen Artikel. Darin heißt es: „Es braucht den Glauben an das Unglaubliche, das Trotzdem, das sich in einer trostlosen Gegenwart den Widerständen der herrschenden Ideologien widersetzt, es braucht die Hoffnung auf das, was der Philosoph Ernst Bloch das »Noch-Nicht« nennt – sonst ist Veränderung nicht möglich. Sonst lässt sich aber auch die Gegenwart auf Dauer kaum aushalten.
Wenn die japanischen Ingenieure in Fukushima keine Hoffnung in all der Hoffnungslosigkeit hätten, könnten sie nicht in die Sperrzone gehen; wenn die Jugendlichen auf dem Tahrir-Platz in Kairo nicht dem Wahrscheinlichen misstraut hätten, wäre die Revolution gescheitert; wenn die Ostdeutschen 1989 nicht dem Realistischen getrotzt hätten, wäre die Wende nie möglich gewesen. Wer sich nur an dem ausrichtet, was ist, kann Unfreiheit und Knechtschaft nicht überwinden oder die Wirklichkeit nicht überschreiten.
Das Undenkbare ist wieder denkbar geworden, die zynische Schwerkraft all derer in Politik und Medien, die Utopien nur nach ihrer Wahrscheinlichkeit beurteilen und verwerfen wollten, ist gebrochen. Denen, die ihre Chancen nicht mathematisch kalkulieren, die ihrem Denken keine Grenzen setzen, die ihren Glauben nicht an der Wahrscheinlichkeit ausrichten, ob in China oder Iran, in Syrien oder Japan, gebührt nicht nur Respekt, ihnen gebührt auch Dank. Und wir sollten ihre Geschichten erzählen an diesen Tagen zu Pessach und Ostern, an denen wir uns an die großen alten Erzählungen der Hoffnung erinnern.“ (Aus: Nur nicht zynisch! Wir brauchen den Glauben an das Unglaubliche, damit Veränderung noch möglich ist, von Carolin Emcke, Die Zeit, 20.04.2011, Nr. 17).
Diesen Dank schulden wir auch den biblischen Schriftstellern mit ihren Geschichten und Visionen und zuallererst schulden wir ihn unserem Gott, der heute wie ein guter Hirte vorgestellt wird: „Ich selbst will meine Schafe weiden, und ich will sie lagern lassen, spricht Gott der HERR. Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten; ich will sie weiden, wie es recht ist. Ja, ihr sollt meine Herde sein, die Herde meiner Weide, und ich will euer Gott sein, spricht Gott der HERR.“
Sich selbst als Schaf in einer Herde zu verstehen, ist allerdings ein äußerst ambivalentes Bild. Davon zu singen, davon im Psalm in poetischer Sprache zu hören, ist das eine und es ist schön.
Davon in nüchterner Sprache zu reden, erweckt Assoziationen, die auch unerquicklich sind: Herdentrieb, Geblöke, Gestank, Lammkotelett – ich deute nur an und führe nicht aus.
Nun, Predigten über Hirten und Herden zu schreiben, erwies sich mir als eine interessante Fortbildung. Wussten Sie, was ein „Ethnopastoralist“ ist? Es handelt sich dabei um einen Experten in der Beziehung zwischen einem Hirten und dem Land, auf dem der Hirte arbeitet.
Und in einem Bericht über einen Vortrag des Ethnopastoralisten Marc Mallen fand ich folgende Sätze über den Hirten, näher: den Hirten der Schweizer Bergwelt:: „… der Hirtenberuf lässt sich nicht bloß über ein spezifisches technisches Können definieren, sondern vielmehr über die zentrale Verbindung des Hirten zum Lebendigen und somit zu einem vielschichtigen, komplexen Aufgabenbereich.
Im Zentrum seiner Arbeit steht die Herde, er geht ihr voraus oder folgt ihrer Bewegung, er soll sie bestmöglich ernähren, pflegen, lenken, beobachten und schützen. … Dazu muss sich der Hirte im Gebirgslebensraum sicher orientieren können und die Vegetation seiner Alpweiden kennen. Er muss einen Sinn entwickeln für seine Herde und seine Alp. … (In) der heutigen Zeit … wird der Rolle des Hirten als „Landschaftspfleger” vermehrt Beachtung geschenkt. Gut geführte Herden können zur Erhaltung offener Weidelandschaften und der Artenvielfalt beitragen. Je erfahrener ein Hirte ist, umso besser kann er seine Zeit und seinen Raum definieren und einteilen, immer in Rücksicht auf das Wohlergehen der Tiere und die Erhaltung der Vegetation für kommende Alpsommer.… Täglich geht der Hirte zu Fuß mit der Herde mit, meist alleine, ist selber in Bewegung, auch innerlich. Dabei ist er mit dem Zyklus von Leben und Tod konfrontiert, mit der Gefahr, der Angst, der Stille und der Verantwortung sich selbst und den Tieren gegenüber.“ (http://www.zalp.ch/aktuell/suppen/suppe_2004_12_02/su_rl.html)
Kehren wir mit diesem Wissen zurück zur symbolischen Rede über Gott als eines guten Hirten, dann wird Gottes Fürsorge in den großen Kontext von Mensch und Schöpfung gestellt, dann ist Gott sowohl exzellenter „Ethnopastoralist“ – so dieses Wort denn eine Existenzberechtigung hat, Internetwissen ist mageres Wissen – also sowohl exzellenter „Ethnopastoralist“ als auch sehr guter Hirte.
Leben und Tod in Gottes Hand, die Hand Gottes im Dreck, im Schmutz, Gott selbst in der Verantwortung für seine Menschen, seine Welt. „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“
Von der Zukunft her kommt ein Leben als Vision auf uns zu und will die Gegenwart verändern, will es und kann es.
Und dabei sind nicht nur die Schwachen, Verirrten, Verlorenen und Verwundeten im Blick, sondern auch – wieder ein Bild, das auch mir persönlich zunächst nicht so ganz genehm ist – die fetten und starken Schafe.
Auch sie, auch wir, wenn schon nicht fett, so doch stark, stehen unter der Obhut und dem Schutz Gottes. „Ja, ihr sollt meine Herde sein, die Herde meiner Weide, und ich will euer Gott sein, spricht Gott der HERR.“
Das ist die Vision. Danken wir Gott und nehmen wir Verantwortung war – füreinander, für Himmel und Erde. Und machen wir Undenkbares denkbar und Unwahrscheinliches zu einer Tatsache. Amen.