13. Sonntag nach Trinitatis - Apostelgeschichte 6, 1-7
Liebe Gemeinde,
man zog im Alter nach Jerusalem! Wir bekommen mit dieser kleinen Erzählung aus der Apostelgeschichte einen schönen Einblick in die früheste Zeit der christlichen Gemeinden. In Jerusalem hatte sich um die Apostel herum eine aramäisch sprechende, also einheimische Gruppe von Christen gebildet. Sie waren überwiegend Juden, die sich der neuen Lehre von Jesus Christus angeschlossen hatten. Diese Gemeinde wurde geleitet von Petrus und dem Herrenbruder Jakobus. Hier und da waren aber auch bereits im Mittelmeerraum kleine Gemeinden entstanden, auch aus Juden, aber eben welchen, die in der Diaspora lebten und griechisch sprachen. Aus diesen Gemeinden zogen etliche Gläubige nach Jerusalem, vor allem im Alter. Denn Jerusalem war die Heilige Stadt, hier lebten noch die Apostel, die Jesus persönlich begegnet waren – und hier war man dem Ölberg nahe, an dem alle Juden möglichst begraben werden wollten. Denn die Auferstehung eines Tages würde in Jerusalem beginnen, und dann wollte man unter den Ersten sein... Das ist so abwegig nicht und hat sich in veränderter Form noch lange bei uns erhalten: Bei uns legte man die Friedhöfe als Kirchhöfe an, weil man nun glaubte, die Auferstehung beginne bei den Altären. Die besten Plätze also lagen möglichst nahe am Altar...
Für die junge christliche Gemeinde in Jerusalem erwuchs daraus ein Problem: Die älteren Menschen, die zu ihnen übersiedelten, waren hier ohne Familie. Denn normalerweise war damals die Familie die Sozialversorgung, auch im Alter. Die Menschen, die aber aus dem Mittelmeerraum nach Jerusalem übersiedelten, standen jetzt allein da und mussten von der kleinen Gemeinde versorgt werden, wenn sie hilfsbedürftig wurden. Das war nicht zu schaffen. Es gab eine Speisung für die Bedürftigen, aber die hohe Zahl an Witwen der Immigranten war zu viel. Lukas erzählt uns, wie es darüber zu Murren und Streit kam. Schließlich handeln die 12 Apostel, berufen eine Vollversammlung der Gemeinde ein und schlagen vor, dass Männer aus den griechisch sprechenden Immigranten gewählt werden, die sich selbst um die Versorgung ihrer Witwen und Bedürftigen kümmern. Gesagt, getan, sieben Männer von gutem Ruf und Weisheit werden ausgewählt (sie tragen allesamt griechische Namen!) und unter Handauflegen und Segen berufen.
So also wurde die Diakonie geboren! In der Nachfolge dieser ersten sieben „Tafel-Mitarbeiter“ entstand ein eigenes Amt neben den Predigern, den Presbytern und den Lehrern. Mir gefällt der Pragmatismus so gut! Und das finde ich lehrreich bis heute! Denn immer wieder neigen wir dazu, Diakonie und Nächstenliebe so zu gestalten, dass einige wenige überfordert werden, weil sie die Probleme aller anderen lösen sollen. Davon weiß vermutlich fast jeder von Ihnen ein eigenes Lied zu singen, in der Familie, im Beruf oder auch hier in der Gemeinde. Dann fühlt man sich moralisch unter Druck, und am Ende sind es einige wenige und oft dieselben, bei denen die Aufgaben landen. Aber in dieser Geburtsstunde der Diakonie – wenn ich das mal so nennen darf – ist man anders vorgegangen. Man hat eine Vollversammlung einberufen und damit erst mal signalisiert: Wir haben ein gemeinsames Problem! Das geht alle an! Und dann hat man – wie wir heute sagen würden – Hilfe zur Selbsthilfe organisiert. Man hat der Gruppe der Immigranten geholfen, eine eigene Versorgungsstruktur aufzubauen. Aber eben eine eigene!
Aus dieser Geburtsstunde der Diakonie ging in den christlichen Gemeinden eine Arbeitsteilung hervor. Niemand kann alles tun, niemand kann auch alles gleich gut tun, es braucht Arbeitsteilung und unterschiedliche Ausbildungen. Allerdings geriet das Amt der Diakone nach einigen Jahrhunderten ins Hintertreffen und wurde zu einer Durchgangsstufe vor der Priesterweihe. In der katholischen Kirche ist das bis heute so. Luther legte zwar großen Wert auf die Versorgung der Armen und Bedürftigen, belebte aber das Diakonenamt nicht neu.
Dazu brauchte es – gerechnet von der Zeit der Apostel aus – etwa 1800 Jahre! ... bis nämlich in Hamburg Johann Hinrich Wichern auf den Plan trat. Auch er reagierte – wie die Apostel – auf eine praktische Not: Im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung im 19. Jahrhundert kam es zu breiter Verelendung unter den Arbeitern. Im Grunde ist die Problemlage erstaunlich ähnlich: Denn auch jetzt brach die angestammte Sozialversorgung weg. Diesmal nicht durch Auswanderung, sondern durch das Wachstum der Städte. Tausende Menschen verließen ihre Dörfer – und damit ihre Familien und ihre Sozialversorgung – zogen in die Städte, um in den Fabriken zu arbeiten. Wurden sie krank, alt oder arbeitslos, gab es nichts und niemanden, der sich um sie kümmerte. Weil die Eltern wenig Zeit für die Kinder hatten, verwahrlosten immer mehr Jugendliche. Darauf reagierte Johann Hinrich Wichern, indem er am 12. September 1833 das „Rauhe Haus“ gründete. Der Kerngedanke war, Jugendlichen auf Zeit eine Ersatzfamilie zu geben. Wichern sah weniger die wirtschaftlichen Veränderungen in der Gesellschaft als Ursache der Probleme, sondern die sittliche Verwahrlosung des Einzelnen. So begann die Aufnahme jedes Jungen (und nur Jungen wurden zunächst aufgenommen) mit einer Art Reinigungsritual, indem ihm die Vergebung seiner Sünden zugesprochen wurde. Dann musste er das Noviziat durchlaufen (also in Anlehnung an die Mönche im Kloster), eine Art „Quarantänestation“, wo die Jungen äußerlich von Ungeziefer befreit und innerlich mit der christlichen Sittenlehre vertraut gemacht wurden. Erst danach wurden sie einer der Familiengruppen zugeteilt, wo jeweils 12 Jungen mit einem Familienoberhaupt lebten. Das Alter war mindestens 13 und die Zeit endete mit 16. Auch Wichern also sah seine Bemühungen als eine Art Hilfe zur Selbsthilfe an. Er wollte und konnte die jungen Menschen nicht unbegrenzt begleiten. 3 bis 4 Jahre in einer intakten familienähnlichen Umgebung mussten genügen, dann sollten die Jungen genug gelernt haben, um anschließend selbständig ihren Weg gehen zu können. Das gelang in vielen Fällen, aber natürlich nicht immer. Auch von Misserfolgen wird berichtet.
Beim Kirchentag in Wittenberg 1848 (dem 1. Kirchentag überhaupt) hielt Wichern eine berühmt gewordene 15-minütige Stehgreifrede. Er rief den Hörerinnen und Hörern zu: „Die Liebe gehört mir wie der Glaube!“ Das war der Anstoß, den „Centralverein für Innere Mission“ zu gründen, das spätere Diakonische Werk. Ein neuer Berufsstand trat ins Leben, der evangelische Diakon und bald auch die evangelische Diakonisse. Gemeinschaften von Diakonen und Diakonissen entstanden überall im Land, z.B. durch Wilhelm Löhe in Neuendettelsau oder durch Theodor Fliedner in Kaiserwerth. Interessant ist eben auch, dass die Kirche selber diese Anregungen nicht aufnahm. Die Diakonie organisierte sich in Vereinen neben und außerhalb der Kirche. Das ist bis heute so.
Wahrscheinlich stellen Sie alle in Gedanken die Verbindungen zur Gegenwart her. Da muss ich gar nicht viel sagen. Das Problem, dass man die Nächstenliebe zu sehr einzelnen aufbürdet und sie überfordert. Wie man Hilfe zur Selbsthilfe geben kann. Immer wieder auch die Frage, wie Kirche, eine Kirchengemeinde sich den Herausforderungen stellen kann. Auch heute werden engagierte Menschen außerhalb der Kirche aktiv, gründen eine Stiftung zum Bau eines Hospizes oder eine evangelische Schule. Und die Kirche ist nach ihrer Rolle gefragt.
Wicherns Ausruf „Die Liebe gehört mir wie der Glaube!“ geht mir nach. Zu tun, was die Liebe gebietet. Darum muss es im Glauben gehen. Aber was heißt das?! Ich finde, die Schwierigkeit besteht darin, den Wald vor lauter Bäumen zu sehen. Es gibt so unendlich viele Probleme, und die Liste, was Kirche noch alles tun könnte, ist „open end“. Was ist wirklich wichtig, was ist unsere Aufgabe? Wie gewinnen wir den Blick fürs Wesentliche zurück?
An dieser Stelle war für mich meine dreimonatige Sabbatzeit in einer Kirchengemeinde in Mecklenburg im Sommer eine Fundgrube. Mir wurde so deutlich: Letztlich geht es darum, dass Kirche „da“ ist, bei den Menschen ist. Das Heil liegt nicht im Aktionismus, sondern darin, „da“ zu sein, Menschen zu begleiten, mit ihnen zu weinen und zu lachen. Natürlich macht das die einzelnen Aktivitäten und Projekte nicht überflüssig. Aber es führt alles, was wir tun, auf einen klaren Kern zurück. Und das finde ich heilsam in unserer unübersichtlichen Zeit. Im Grunde geht es darum, „da“ zu sein, bei den Menschen, ganz schlicht. „Da“ zu sein als eine geistliche Kirche, als geistliche Menschen. Wir stehen als geistliche Menschen dafür, dass es etwas gibt, was über die sichtbare Welt hinausgeht. Dass wir im Angesicht der Ewigkeit leben. Dass Vergebung möglich ist, Liebe über Grenzen hinweg. Dass wir von Werten leben, von Frieden, Freiheit und Toleranz. Wie der Samariter als Ausländer einem Einheimischen geholfen hat, wie die Apostel die Tafelspeisung unter den Immigranten regelten. Das alles versteht sich nicht von selbst. Diese Liebe lebt von dem Glauben, dass wir alle Gottes Kinder sind. Juden, Muslime, Christen, Hindus, Buddhisten, Atheisten, ob wir in der Heimat leben oder in der Fremde. Alle sind wir Gottes Kinder, in Frieden, Freiheit und Toleranz. Dies auszustrahlen, heißt für mich heute, „da“ zu sein. Denn Gott ist auch „da“. Wie Jesus gesagt hat: „Siehe ich bin bei euch alle Tage, bis an der Welt Ende.“ Mitten unter uns. Und das ist gut so. Amen.