21. Sonntag nach Trinitatis: Jer 29,1-12 (24-32)

21.10.2018 | 10:00

In unserer Überlieferung spricht Gott Jahwe durch den Propheten Jeremia Menschen an, die der babylonische Großkönig Nebukadnezar nach Babel verschleppt hatte, weil der judäische König, der ein Vasall Nebukadnezars war, den Vasallenvertrag mit Nebukadnezar kurzerhand aufgekündigt und die Tributzahlungen an ihn eingestellt hatte. Der Zwerg Juda sagte dem Riesen Babylon: Du kannst uns nichts mehr befehlen und wir zahlen dir keinen Pfennig mehr. Das ließ der sich nicht bieten und tat, was zu erwarten war: Er ließ Jerusalem im Jahr 587/6 v. Chr. samt dem Tempel zerstören. Und damit es keine neuen Aufmüpfigkeiten geben würde, ließ er die jüdische Oberschicht von Jerusalem samt ihren Priestern – von Ausnahmen abgesehen – nach Babel verschleppen. Dieses Verfahren hatten die Babylonier von den Assyrern gelernt. Größer konnte die Katastrophe für die Juden nicht ausfallen. Das ist nicht nur im Blick auf die Verschleppung der Oberschicht und auch nicht nur im Blick auf die Zerstörung Jerusalems gemeint. Schlimmer ist für die Juden noch die Zerstörung des von Salomo gebauten Tempels gewesen, der immerhin das Haus ihres Gottes war. Und am allerschlimmsten war die bittere Einsicht, dass Jahwe dies alles nicht hatte verhindern können. War er zu schwach gegenüber Marduk, dem Gott Nebukadnezars, des Siegers?

Die Juden bekamen auf ihre Fragen Antwort durch einen Brief, den ihnen der Prophet Jeremia aus Jerusalem schickte. Ein Prophet redet – so sagen wir manchmal - als der „Mund seines Gottes“. Das sagt sich so leicht, ist aber alles andere als leicht zu verstehen. Wie geht das denn, fragt man sich, wenn ein Prophet als Mund Gottes redet? Diktiert Gott ihm fertige Sätze, so dass er sie nur niederzuschreiben braucht? Wie legitimiert ein Gott seine Sätze? Im Blick auf die Frage, wie Muhammad zum Text des Koran gekommen ist, wird zum Beispiel von muslimischen Theologen gesagt: Der fertige Koran sei bei Allah im Himmel (gewesen), und er habe ihn Muhammad Satz für Satz und Sure für Sure vermittelt.

Im Blick auf unseren Bibeltext ist die Frage, wie direkte Gottesrede in menschlicher Sprache zustande kommt, aus einem besonderen Grund wichtig: Schließlich ist im 29. Kapitel bei Jeremia davon die Rede, dass es in Babylon noch andere jüdische Propheten gab, die sich zu der Frage äußerten, wann die Juden nach Jerusalem zurückkehren könnten. Jahwes Botschaft lautete aus dieser Propheten Mund, Gott Jahwe werde sie alsbald wieder nach Jerusalem zurückführen. Das werden die Leute gerne gehört haben. Aber gegen diese Propheten macht Jeremia Front und schreibt, sie verbreiteten nichts als ihre Träume. Er, Jeremia, hatte von Jahwe etwas ganz anderes vernommen. Besonders scharf aber reagiert er auf einen Propheten namens Schemajahu. In Gottes Namen droht er ihm und seiner Familie Unheil an: „Niemand, der zu ihm gehört, wird in diesem Volk wohnen bleiben“ – was im Klartext heißt: sie sollen ausgerottet werden. (29,32) Das ist eine grobe Sprache. Doch die hatte sein Konkurrent auch schon verwendet. Schemajahu hatte nämlich den in Jerusalem verbliebenen Priester gefragt, ob sich denn in Jerusalem „jeder Verrückte“ – damit meinte er Jeremia – als Prophet aufspielen dürfe. Man solle ihn in den Block schlagen und ins Halseisen schließen – also mundtot machen! (29,26 f.) Ganz offenbar war es also nicht so, dass die Propheten eine fertige Botschaft mit Punkt und Komma von ihrem Gott bekamen. Vielmehr haben sie etwas wahr-genommen, das sie selbst in eine Gottesrede umgestalten – und verantworten mussten.

Schemajahus Wut richtete sich auf Jeremias Botschaft an die Verschleppten, die zusammengefasst so lautete: ‚Richtet euch ungefähr auf 70 Jahre, also auf drei Generationen, in Babel ein!‘ Und konkret: „Baut Häuser und pflanzt Gärten (in Babylon) und esst ihre Frucht, nehmt Frauen und zeugt Söhne und Töchter; und nehmt Frauen für eure Söhne und gebt eure Töchter Männern, damit sie Söhne und Töchter gebären, damit ihr dort zahlreicher werdet und nicht weniger. Und sucht das Wohl der Stadt, in die ich euch zur Verbannung geführt habe, und betet für sie zum Herrn, denn in ihrem Wohl wird euer Wohl liegen. So spricht (Jahwe) der Herr der Heerscharen.“ Krasser konnte der Gegensatz zwischen den Botschaften der beiden Propheten nicht sein. Doch nur einer hat etwas Wahres gesagt. Ganz offenbar konnten die Menschen gar nicht sicher sein, dass sie, wenn ein Prophet redete, wirklich eine Gottesbotschaft hörten! Die einzig zuverlässige Überprüfung eines Prophetenwortes war deshalb der Gang der Dinge. Doch keiner von denen, die Jeremias Botschaft hörten, hatte noch 70 Jahre Lebenszeit. Also mussten sie sich entscheiden, wem sie glauben wollten.

Als das Buch des Propheten Jeremia fertig geschrieben war, war man längst schon wieder in Jerusalem. Und im Rückblick auf den Prophetenstreit konnte jedermann feststellen, dass Jeremia Recht behalten hatte: Das Exil in Babylon hat ca. 60 Jahre gedauert. Hinzu kamen die Jahre, die die Rückübersiedlung dauerte. Denn die nächste Weltmacht, die die Babylonier abgelöst hatte: die Perser, haben 538 durch ihren König Kyros verfügt, dass die Verschleppten wieder zurückkehren konnten. Ja, die viel toleranteren Perser haben später sogar dafür gesorgt, dass wieder ein Tempel in Jerusalem aufgebaut wurde.

Und deshalb noch einmal, und ehe ich auf die inhaltliche Seite der Botschaft Jeremias eingehe, die Frage: Wie kann man sich die Entstehung einer prophetischen Rede Gottes erklären? Um die Antwort zu geben, muss ich etwas aus dem Werdegang eines und einer jeden von uns ansprechen. In der Zeit nach dem 3./4. Lebensjahr ungefähr werden wir Menschen zu etwas fähig, was uns in der Evolution ganz wesentlich dazu verholfen hat, Menschen zu werden, wie wir Menschen sind. Ich meine die Fähigkeit, dass wir uns von dem, was andere Menschen im Sinn haben, eine Vorstellung machen können. Wir können, um es bildhaft zu sagen, in einem bestimmten Maß die Gedanken der anderen „lesen“, ja, uns in sie hineinversetzen. Etwas später lernen wir als Kinder sogar, Gedanken, die andere zu bestimmten Sachverhalten haben, mit dem zu vergleichen, was wir als tatsächlichen Sachverhalt erkannt haben. So kommt es, dass Kinder manchmal auf etwas, was ihre Eltern sagen oder tun, erschreckt reagieren und sagen: Das stimmt doch gar nicht, Papa bzw. Mama! Oder: Das ist nicht richtig, was Du tust! Als die frühen Menschen angefangen haben, hinter dem Walten der Naturmächte quasi-göttliche Wesen zu sehen, haben sie die alltägliche Kunst, Gedanken zu lesen, auch auf diese Wesen angewendet. Und sie deuteten die gewaltigen Einbrüche in ihr Leben – seien es Fluten oder große Dürren, Vulkanausbrüche oder Meteoriteneinschläge – als Reaktionen der Naturmächte auf ihr Verhalten. Sie haben sie also in ihr Leben einbezogen.

Sie wussten aus dem Leben in Clans, dass es wichtig war, zu beobachten und sich zu merken, was die Alten und Weisen zu bestimmten Verhaltensweisen sagten. Um Frieden im Clan zu haben, musste man sich verhalten, ohne Zorn zu erregen. Und wenn es doch zum Zorn der Alten kam, musste man die Strafe ertragen. Genau das aber können wir auch bei allen großen Religionen in den ersten Jahrtausenden vor Christus dokumentiert finden. Auch sie haben sich bemüht, die Gedanken ihrer Götter und Göttinnen zu erkunden, haben Erfahrungen mit ihnen gesammelt und aus den gesammelten Erfahrungen auf künftiges Verhalten der Gottheiten geschlossen und sich dem angepasst. Und die Opferkulte sind dazu geschaffen worden, den Zorn der Götter zu besänftigen.

Kam es dann aber doch ganz anders als erwartet, musste die Prophezeiung und eventuell auch das Gottesbild geändert werden. So entstand das, was wir heute Theologie nennen. Und auch da gilt: Wenn das Gottesbild sich ändert, machen die einen mit und die anderen nicht. Das ist in Blankenese genauso wie in Berg, wo ich wohne. Und das ist auch in den Theologenschaften an den Universitäten nicht anders. Wir erforschen alte heilige Schriften, eigene und mittlerweile auch fremde, um Gott, und uns im Gegenüber zu ihm, zu verstehen – und um zu erkennen, was wir tun müssen. Wir „lesen“ sozusagen Gottes Gedanken. Und ohne dass wir es merken, mischen wir in das von Gott Erkundete unsere eigenen Ängste und Hoffnungen ein. Seit eh und je ist es so gewesen, dass die Menschen dabei zum Teil sehr Unterschiedliches von Gott erkannt haben. Auch das Nebeneinander der vier Evangelien im Neuen Testament bezeugt, wie stark voneinander abweichen kann, was Menschen von Jesus wahrgenommen haben. Das aber heißt: Auch da, wo von Offenbarung geredet wird, geht es immer um Wahrnehmungen, die Menschen gemacht – und gedeutet haben.

So war es wohl auch bei Schemajahu und Jeremia. Schemajahu dachte traditionell, und das hieß, dass sich die Juden von allen anderen Völkern fernhalten sollten. Schon gar nicht sollten sie sich durch Heirat und gemeinsame Kinder in Blutsverwandtschaften mit Andersgläubigen ziehen lassen. Denn das könnte dazu führen, dass sich für die Menschen auch die Grenzen zwischen Jahwe und den Göttern und Göttinnen der anderen verwischen! Und dieser „Verrückte“, der Jeremia, verkündet mit dem „Ich“ Jahwes trotzdem: Baut Häuser, pflanzt Gärten in Babylon, heiratet dort und sorgt, dass ihr Enkel bekommt, die eine doppelte Abstammung haben. Jeremia meinte nämlich, in Gottes Sinn gelesen zu haben, Gott wolle, dass die Juden sich in Babylon vermehren und eine Zukunft haben sollen. Und so formuliert Jeremia, was er von Gott wahrgenommen hat: „Ich, ich kenne meine Gedanken, die ich über euch habe, … , Gedanken des Friedens und nicht zum Unheil, sondern um euch eine Zukunft zu geben und Hoffnung.“ Für Jeremia war klar: Wenn sich die Juden mit den Babyloniern verbinden, werden sie Frieden mit ihnen haben. Tatsache ist, dass die Zeit in Babylon für die Juden sogar einen gewaltigen kulturellen Schub bedeutet hat.

Ich lade euch ein, liebe Gemeinde, mit mir in Gottes Sinn zu lesen, wie wir heute seine „Gedanken des Friedens, die Zukunft und Hoffnung geben wollen“, für uns konkretisieren können. Ich bin sicher, dass damit Gedanken gemeint sind, die darauf zielen, dass sich Menschen aus unterschiedlichen Völkern und Religionen verbinden. Sie sollen Grundsteine für Brücken legen, die über die alten feindlichen Grenzen hinwegführen in eine bessere Zukunft, ohne Krieg. Jeremia hat eine wunderbare Theologie begonnen und Gott als Wegbereiter dafür erkannt. Nur dadurch kann er der ungeheuerlichen Niederlage Jahwes und der Verschleppung ins Exil sogar etwas Gutes abgewinnen. Denn die blutsmäßige Verbindung mit den Babyloniern – so liest Jeremia in seines Gottes Sinn – wird dafür sorgen, dass es mit ihnen keinen Krieg mehr geben wird. [Ich gehe davon aus, dass die Aufforderung, für die Babylonier zu beten und das eigene Wohl an das Wohl der Stadt zu binden, dies einschließt.] Das ist der Grund, warum Jahwe es zugelassen hat, dass die Juden nach Babylon verschleppt worden sind. Nur so konnten die alten Barrieren in den Köpfen, die die Volks- und Religionsgrenzen aufgerichtet hatten, durchbrochen werden. Das war eine revolutionäre Veränderung des Gottesbildes: Der Gott selbst, der sich auf ewig nur einem Volk zugewandt zu haben schien, führte sein Volk nach Meinung Jeremias über diese Grenze hinweg.

Um diese Theologie der Entgrenzung in unserer Welt fortzuführen, muss man nicht Theologie studiert haben. Wichtig ist, dem ungeheuer schlichten Grundsatz zu folgen, den Jeremia formuliert hat: Denkt, auch im Gebet, über die alten Grenzen hinweg. Gott ist Gott für alle. Auch die euch Fremden sind Menschen wie wir, haben Hoffnungen und Ängste wie ihr, brauchen Frieden wie wir alle. In Summa: „Das Wohl der anderen wird auch euer Wohl sein.“ Für uns heißt das: Wir müssen endlich ernsthaft damit anfangen, im Blick auf die anschwellenden Migrationen das Wohl der bisher Chancenlosen zu fördern. Lassen wir uns von unserem Gott über die Grenzen in unseren Köpfen führen! Wir müssen davon ausgehen, dass wir unseren Wohlstand nur stabilisieren können, wenn wir ihn auch dahin bringen, woher die Flüchtlinge kommen. Bisher liefern wir immer noch vor allem Waffen in die Krisengebiete. Das heißt Öl ins Feuer gießen und schließt einen Teufelskreis. Wir müssen die zerrissene Welt, in der der Nationalismus wieder sein Haupt erhebt und die Parole „Wir zuerst!“ verbreitet, neu erfinden und unser Wohl an das Wohl der anderen binden. Wir großartigen Exportweltmeister müssen anfangen, den Wohlstand zu exportieren. Das muss unser Gottesdienst werden.

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