8. Sonntag nach Trinitatis: Jes 2, 1-5

06.08.2017 | 12:00

Was keiner wagt, das sollt ihr wagen.
Was keiner sagt, das sagt heraus
Was keiner denkt, das wagt zu denken
Was keiner anfängt, das führt aus.
Wenn keiner ja sagt, sollt ihr’s sagen
Wenn keiner nein sagt, sagt doch nein
Wenn alle zweifeln, wagt zu glauben
Wenn alle mittun, steht allein.
Wo alle loben, habt Bedenken
Wo alle spotten, spottet nicht
Wo alle geizen, wagt zu schenken
Wo alles dunkel ist, macht Licht.

Lothar Zenetti

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.

Liebe Gemeinde,

"Vision ist die Kunst, Unsichtbares zu sehen", hat Jonathan Swift, der anglo-irische Erzähler und Theologe einmal so schön auf den Punkt gebracht, worum es heute in unserem Predigttext geht. Um diese Kunst, darum, so hellsichtig zu sein. Darum, schon, manchmal sogar überhaupt sehen zu können, was noch komplett verborgen ist. "Wer Visionen hat, der soll zum Arzt gehen!", wird Helmut Schmidt so gern zitiert. Jesus dagegen sagt an mehr als einer Stelle "Wer Augen hat zu sehen, der sehe!" und er meint damit nicht die Sehkraft der Augen, sondern die Weite des Herzens und die Einübung in den Blick Gottes, der anderes, mehr, tiefer sehen kann als wir. Und der deshalb auch jenseits unserer Möglichkeiten Möglichkeiten hat und Blickrichtungen aufziehen kann, die uns normalerweise komplett verborgen bleiben in den engen Realitäten unserer Welt und der Sachzwängen, die wir darin formulieren.

Schon der Ort, von dem aus wir gucken, bestimmt, was wir sehen. Wer nur gelernt hat, vom Mangel aus zu gucken, der wird nur den Mangel entdecken. Wer um die Fülle weiß, wird sie auch finden.

Es sind nicht die Umstände, die darüber entscheiden, was möglich ist. Es ist die Art und Weise, wie wir sehen, nicht, was wir sehen. Und wir alle wissen das. Es gibt Menschen, die nie zufrieden sind, obwohl sie alles haben. Die an allem etwas auszusetzen haben, die immer klagen. Menschen, die trotz aller Möglichkeiten, die ihnen offen stehen, nie den engen Horizont überschreiten, der sie gefangen hält.

Genau so stimmt das Gegenteil und Sie alle werden auch Menschen kennen, die ganz anders sind. Bei denen man mit Fug und Recht fragen kann, wie die das eigentlich schaffen, trotz all dem, was ihnen widerfahren ist, so zu leuchten, so herzlich zu sein, so positiv und dem Leben zugewandt durch ihre Tage zu gehen, trotz allem dem Frieden zu dienen. Es sind im letzten nicht die Umstände, die über die Qualität des Lebens entscheiden, sondern die Art und Weise, wie wir damit umgehen.

Benjamin Zander, der Dirigent des Bostoner Symphonieorchesters beschreibt auf ganz wunderbare Weise, wie unterschiedlich diese beiden Welten sind, die Welt des Mangels und die Welt der Möglichkeit (so nennt er das und die Fertigkeit der Seele, dort zu wohnen, The Art of Possibility, also die Kunst der Möglichkeit. Wenn Sie können, schauen Sie sich eines der Videos im Internet an, wenn er mit jungen Musikern arbeitet, egal ob Sie mit klassischer Musik etwas verbinden oder nicht. Es sind Unterrichtsstunden für's Leben, die er gibt. Er lehrt von diesem Ort aus, er hat sich für diesen Wohnort seiner Seele entschieden, für den Ort der Möglichkeit, in Anlehnung an Jesaja würde ich sagen, für den Ort des Herrn.).

Er erzählt gern folgende wahre Begebenheit: im 19. Jahrhundert wurden zwei Schuhverkäufer von Manchester aus von ihrem Chef nach Afrika geschickt, um dort die Absatzmärkte für Schuhe zu erkunden. Der erste schrieb ein Telegramm zurück, in dem es hieß: "Situation hopeless, they don't wear shoes." Also: "Die Situation ist hoffnungslos, sie tragen hier keine Schuhe."

Der zweite schrieb: "Glorious opportunity, they don't wear shoes yet", also: "Wunderbare Gelegenheit, sie tragen bisher noch gar keine Schuhe."

Es sind nicht die Umstände, die unser Leben prägen, sondern die Art und Weise, wie wir sie sehen und mit ihnen umgehen. Es ist nicht so sehr der Ort, an dem wir freiwillig oder unfreiwillig leben, der uns prägt, als vielmehr der Ort, an dem wir innerlich zu Hause sind und von dem wir den Blick justieren lassen auf unser Leben. Ob wir die Gefangenen der äußeren Umstände sind und bleiben oder die ersten Freigelassenen von Gottes Schöpfung werden, ist ein großer Unterschied.

Dieser Benjamin Zander erzählt, dass sein Vater 1937 von Deutschland nach England ausgewandert ist mit seiner Frau und vier Kindern. Er war Jude und hatte schon Familienangehörige in Konzentrationslager gehen sehen durch die Willkürherrschaft der Nazis. Er kam ohne alles, ohne Hab und Gut, ohne Geld, ohne Job. Und er, der kleine Benjamin, sein Sohn, fragte ihn einmal völlig irritiert, warum er eigentlich nicht voller Wut und Verzweiflung sei angesichts all dessen, was er erlebt hatte und auch jetzt erleiden musste und er antwortete: "Weißt Du, ich habe herausgefunden, dass Bitterkeit und Verzweiflung kein guter Ort sind, um darin zu wohnen. Darum bin ich da weggezogen." Welche Kraft. Welche Gnade.

Es braucht Menschen, die einen Sinn haben für das, was möglich ist, die mehr sehen als das, was vor Augen ist, die weiter blicken können und tiefer. Menschen, die sehen, was noch nicht da ist, aber sein könnte. Die wissen, dass eine Utopie keine Illusion ist, sondern eine Vision, die einfach noch nicht ihren Ort gefunden hat. Die zurückblicken an den guten Anfang, als Gott sagte: "Siehe, alles ist gut." Und daran glauben, dass das im Tiefsten noch immer gilt und deshalb auch wieder werden kann. Es braucht solche Menschen. Einen Nelson Mandela, der das Ende der Apartheid denken konnte ohne Krieg und Gewalt und eine Zukunft in Südafrika, in der Weiße und Schwarze dieses Land gleichberechtigt und in Frieden bewohnen und gestalten. Der Gerechtigkeit ohne Rache denken konnte und einen Neuanfang ohne Vergeltung für möglich hielt. Und eine innere Landkarte von dem Weg dahin in sich trug. Einen Jitzchak Rabin, der sich vorstellen konnte, dass Palästinenser und Israelis doch miteinander in Frieden leben können und den Weg dahin versucht hat. Parents Circle Eltern, die wissen, dass es einen Weg geben muss miteinander, weil der Weg gegeneinander verbrannt ist von nicht wieder gutzumachendem Leid. Es braucht Menschen, die das scheinbar Unmögliche für möglich halten.

Jemanden, der mehr zu sehen in der Lage ist als das Augenfällige, immer schon Dagewesene. Und der deshalb dem eigenen und dem kollektiven kleingläubigen Selbst, das in uns allen steckt, Grenzen setzt und der größeren Vision vertraut.

Der nicht nur das Hier und Jetzt sehen kann, sondern auch die Tage, die noch kommen werden, einbezieht in seine Vorstellungen. Weil er daran glaubt, dass bei Gott so viel mehr möglich ist als das, was wir uns gerade mal selbst vorstellen können.

Einen solchen Blick hatten die Propheten. Sie haben in ihren Träumen und Visionen gesehen, was kommen soll, was kommen wird. Damit haben sie uns Sehnsuchtsbilder ins Herz gelegt und uns an Orte gelockt, die wir noch nicht kennen, ja vielleicht nicht mal zu denken wagen.

Hören wir Worte von Jesaja.

Dies ist das Wort, das Jesaja, der Sohn des Amoz, schaute über Juda und Jerusalem. Es wird zur letzten Zeit der Berg, da des HERRN Haus ist, fest stehen, höher als alle Berge und über alle Hügel erhaben, und alle Heiden werden herzulaufen, und viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns hinaufgehen zum Berg des HERRN, zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir wandeln auf seinen Steigen! Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des HERRN Wort von Jerusalem. Und er wird richten unter den Nationen und zurechtweisen viele Völker. Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln. Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. Kommt nun, ihr vom Hause Jakob, lasst uns wandeln im Licht des HERRN! (Jes 2,1-5)

Der Ort, der hier beschrieben wird, ist eine Utopie. Noch. Denn noch sind sie nicht da, die Pflugschare, es sind die Schwerter, die das Bild bestimmen. Noch sind sie nicht da, die Sicheln, die die Ernte einbringen, es sind die Spieße, die wir gegeneinander in Stellung bringen, Kriegswerkzeuge.

Gerade Israel, gerade Jerusalem, heiliger Ort so vieler Menschen, ist noch immer viel mehr die Wiege der Gewalt als der Ort, an dem Menschen den Frieden lernen, Weisung annehmen für ein Leben miteinander und demütig genug sind, Gerechtigkeit nicht nur für sich selbst zu erflehen, sondern auch für den Nächsten neben mir, egal, welcher Religion, egal, welchen Hintergrundes, egal, welcher Vorgeschichte.

Und doch, und gerade deshalb malt uns Jesaja mit seinen Worten ein Friedensbild vor unseren Augen. An Tagen, die kommen werden, wird es so sein. Am Ende der Zeit. Na klar, denken Sie jetzt vielleicht, na klar, am Ende, ganz am Ende. Religion also doch Opium für die, die dran glauben ? Nein!

"Kommt und lasst uns nun wandeln im Licht des Herrn", endet der Predigttext. Mit einem Imperativ, mit einer Aufforderung. (Jes 2,5)

Kommt und lasst uns jetzt wandeln im Licht des Herrn. Nicht eines fernen Tages, sondern jetzt, heute, beginnt die Vision Wirklichkeit zu werden, mit einem jeden von uns, mit einem jeden Schritt auf den Spuren des Herrn. Die Frage ist: bist du dabei ?!

Wir können unsere Schwerter umschmieden, schon heute. Aus gegeneinander gerichteten Spießen Erntesicheln machen, den gemeinsamen Weg suchen, die Achtung vor der Würde und dem Geheimnis, das der Andere ist und bleibt, wahren, die Geschichte, die seine ist, nicht vorschnell be- und verurteilen. Darauf achten, wo wir selber Krieg oder Frieden machen, wo wir selber Brandbeschleuniger sind oder Friedensstifter. Und uns dann für den Weg des Herrn entscheiden. Dafür, dass auch durch unser eigenes Tun und Handeln, die Art und Weise, in der wir Menschen begegnen, etwas vom Licht des Herrn spürbar wird, das in uns leuchtet und dass das Licht in anderen Menschen achtsam wahrgenommen wird. Menschen so begegnen, dass die große Vision Wirklichkeit wird – auch durch uns.

Es gibt viel zu tun: Ich fang schon mal an. Mit meinen Gedanken und Worten, mit meiner kleinen Welt. Denn damit beginnt es immer. Und alle hehren Worte und alle klugen Reden werden nicht umhinkönnen, sich im Alltag bewähren zu müssen.

Ein Kollege von mir hat das schön so ausgedrückt: "Als Jesus unterwegs war mit den Menschen, da hat er geheilt, getröstet, geliebt und Gott blitzte auf in jedem seiner Worte. Da dachten die Menschen: Jetzt ist es soweit. Jetzt sind die Tage da, von denen Jesaja und die anderen gesprochen haben.

"Ja", sagt Jesus, "aber anders als gedacht. Der Friede Gottes ist schon da. Er ist mitten unter euch. Also machen wir mit." Lernen wir diesem Frieden dienen, in uns und um uns, so wie Jesus es uns gezeigt hat und wir sind die, mit denen seine Vision Wirklichkeit wird.

Amen.

 

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