Matthäus 27, 33-54 | Karfreitag

29.03.2013 | 01:00

H. Gorski

Liebe Gemeinde,

etwas bleibt ungehört in dieser Welt. Ein stilles Geschrei. Ich weiß nicht, wie still wir werden müssten, um es hören zu können.

Aber ich stelle es mir in Gedanken vor. Das Weinen der Menschen, die traurig sind. Die Angst derer, denen Schmerz oder Tod bevorstehen. Das Schreien derer, denen Gewalt angetan wird. Und das Seufzen der Schöpfung, der gerodeten Bäume in den Regenwäldern, der Tiere in den Schlachthöfen und Versuchslabors, der Luft und des Wassers mit ihren Ansammlungen von Gift. Ein stilles Geschrei.

Einmal wurde es laut. Am Karfreitag schrie Jesus sein „Mein Gott, warum hast du mich verlassen“, das Erdbeben war so etwas wie die Resonanz auf diesen Schrei, der durch die ganze Schöpfung ging.

Meister Eckardt, ein Theologe, der um die Wende zum 14. Jahrhundert lebte und als großer Mystiker in die Geschichte einging, prägte das Wort vom „stillen Geschrei“. Mit diesem widersprüchlichen Wort versuchte er, Gott zu beschreiben als den, der alle Widersprüche in sich vereint. Wenn wir irgendwann so still würden, dass wir es hören könnten, könnten wir Gott hören. So wie Jesu Rufen am Karfreitag, damals.

Ich weiß nicht, ob es auf die Frage nach dem Warum des Kreuzestodes überhaupt eine uns Menschen verständliche Antwort gibt. Wahrscheinlich bleibt die Antwort so widersprüchlich und unfassbar wie eben das „stille Geschrei“. Was ich aber verstehe, zumindest aus meiner menschlichen Erfahrung einigermaßen nachvollziehen kann, ist die Angst.

Kann es ein Leben ohne Angst überhaupt geben? Vielleicht ja. Aber es wäre ein geistloses Leben. Sören Kierkegaard schrieb über die Angst: „In der Geistlosigkeit ist keine Angst, dafür ist sie zu glücklich und zufrieden, und zu geistlos.“ Ohne Angsterfahrung und Angstannahme gibt es keine Menschwerdung, folgerte Dorothee Sölle. Wer die Angst nicht wahrhaben will, „hält sich weiter an Bomben und Aktien“, schrieb sie provozierend.

Mit diesen Gedanken schaue ich mich in der Welt um. Es ist ja merkwürdig, wie wir einerseits Angst aus unserem Leben verdrängen, Gesundheit und Glamour für machbar halten wollen, eine Welt des schönen, angstfreien Scheins errichten. Gleichzeitig machen sich Menschen auf, um in Extremerlebnissen an Seilen, über Schluchten, auf Wildwassern sich einen Angst-Kick zu holen. Widersprüchlich ist das allemal. Offenbar lässt sich, wie Dorothee Sölle weiter schrieb, die „dunkle Nacht der Seele nicht abwählen“, wegtrösten, und die dunkle Nacht der Schöpfung erst recht nicht. Trösten ohne zu lügen – wie geht das? Wohl jedenfalls nicht an der dunklen Nacht vorbei.

Ohne Angsterfahrung und Angstannahme gibt es keine Menschwerdung – wenn das stimmt, bedeutet es: Ohne sich der eigenen Angst zu stellen, können wir anderen nicht menschlich gegenübertreten. Und die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus kommt, so gesehen, erst am Kreuz zum Ziel. Weihnachten, die Geburt, ist dann nur der Anfang eines Weges der Menschwerdung. So wie für uns auch. Wir werden als Menschen geboren und müssen doch erst noch Menschen werden. Am Kreuz ist Gott endgültig Mensch geworden.

In diesem Augenblick verließ er seinen Thron. Die Evangelien berichten, dass mitten im Erdbeben der Vorhang im Tempel von oben bis unten durchriss. Der Vorhang im Tempel trennte das Allerheiligste vom übrigen Tempel ab. Hinter dem Vorhang, so glaubte man, wohnt unsichtbar Gott. Nur der Hohepriester durfte einmal im Jahr hinter den Vorhang treten und Gott opfern. Karfreitag, so deuten es die Evangelien, hat Gott diesen Thron verlassen und ist ans Kreuz gestiegen, hat sich mit der Angst und dem Leid des Menschen verbunden – des Menschen Jesus und aller Menschen.

Die Umstehenden lästerten Jesus und sagten: „Soll er doch vom Kreuz herabsteigen, wenn er Gottes Sohn ist. Anderen hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen.“

Diese Überlieferung ist mir in diesem Jahr ganz neu zu Bewusstsein gekommen, als ein polnischer Bischof – nämlich der, der zuvor Privatsekretär von Johannes Paul II. gewesen war – den Rücktritt Papst Benedikts mit Worten kommentierte, die Johannes Paul selbst gesagt haben soll: „Vom Kreuz steigt man nicht herab!“ Das ist ja eine eigenartige Mystifizierung des Papstamtes, so als wäre Jesus nicht ein für alle Mal für uns Menschen gestorben, sondern als müsste ein Papst diesen Weg wiederholen. In diesem Augenblick ist mir Papst Benedikt zum ersten Mal in seinem Pontifikat „modern“ vorgekommen. Er, der sich so schwer tat mit der Moderne insgesamt, mit Reformation, Aufklärung, Vernunft und Toleranz, ausgerechnet er deutet am Ende sein Amt überraschend modern: eben nicht als mystifizierte Wiederholung des Kreuzestodes Jesu, sondern als ein menschliches Amt, von dem man zurücktreten kann.

Soweit ich es verstehe, hat er damit auch theologisch das einzig Richtige gesagt und getan: Seit Jesu Kreuzestod und eben gerade weil Jesus den Weg am Kreuz bis zum Ende und darüber hinaus bis zur Auferstehung gegangen ist, gerade deshalb muss kein Mensch mehr am Kreuz bleiben. Durch Jesu Tod sind wir so etwas wie die Freigelassenen der Schöpfung, berufen, einander vom Kreuz herab zu helfen.

Nachfolge auf den Spuren Jesu kann heißen, ihm ans Kreuz zu folgen. Kann heißen, einen unbequemen, einen schweren Weg zu wählen. Aber nicht mehr als unabwendbares Verhängnis; das gerade nicht mehr. Dann würden wir uns mit Jesus verwechseln. Nachfolge auf den Spuren Jesu heißt, einander vom Kreuz herab zu helfen, genau den Weg zu gehen, den Jesus möglich gemacht hat. So ist das Kreuz nach meinem Verständnis ein Mahnmal dafür, dass Gewalt und Leid und Ungerechtigkeit nach Gottes Willen nicht mehr sein sollen. Und dass wir aufgerufen sind, überall wo wir es möglich machen können, Menschen vom Kreuz herab zu holen. Und wo es immer möglich sein mag, auch die Schöpfung vom Kreuz zu holen.

Wo finden wir dazu die Kraft? Noch einmal Dorothee Sölle: Man sagt landläufig, Wissen sei Macht. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Im Kampf gegen Gewalt, Leid und Ungerechtigkeit ist Wissen oft nur „vertiefte Ohnmacht“. Dieses Wort klingt mir fast täglich in den Ohren beim Lesen der Zeitung und beim Hören der Nachrichten. Wir wissen so viel, wir wissen genug, über die globalen Zusammenhänge der Ausbeutung, über die Macht der Finanzmärkte, über den Raubbau mit Ressourcen. Auch in unseren kleinen privaten und zwischenmenschlichen Konflikten wissen wir meist ziemlich viel. Daran hapert es nicht. Dieses Wissen scheint aber nur in „vertiefte Ohnmacht“ zu führen. Denn es ändert kaum etwas. Es gibt offenbar so etwas wie eine widerstandsunfähige Trauer, die Traurigkeit, die, nach Paulus, die Traurigkeit der Welt ist und zum Tode führt. Es gibt aber auch eine widerstandsfähige Trauer, die Traurigkeit, die, nach Paulus, die Traurigkeit Gottes ist und zum Leben führt. Aus der Ohnmacht führt wohl nur die Traurigkeit Gottes heraus, die in ihm, in seiner Liebe gegründet ist und widerstandsfähig macht.

Etwas bleibt ungehört in dieser Welt. Ein stilles Geschrei. Ich weiß nicht, wie still wir werden müssten, um es hören zu können. Das „stille Geschrei“ wahrzunehmen in unserer Welt, bedeutet, eins mit ihm zu werden, die Gegenwart Gottes im geschlagenen Leben wachzuhalten. Gott schenke uns die Ohren und das Herz dazu. Amen.

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