Okuli Fastenpredigtreihe: Kor 9, 19

19.03.2017 | 11:00

Predigt über Argula von Grumbach

Denn wiewohl ich frei bin von jedermann, habe ich doch mich selbst jedermann zum Knechte gemacht, auf dass ich ihrer viele gewinne (Korinther 9,19)

Liebe Gemeinde,

ich will Sie heute mit einer außerordentlich mutigen Frau bekannt machen. Argula von Grumbach war eine Zeitgenossin Luthers und hat sich als erste Frau öffentlich für die Reformation eingesetzt.

Im Jahr 1523 prozessiert die Universität Ingolstadt gegen den Studenten Arsacius Seehofer, der das Gedankengut Luthers verbreitet hat. Er wird verurteilt und unter Androhung des Scheiterhaufens zum öffentlichen Widerruf gezwungen. Als Argula von Grumbach vom Schicksal Seehofers erfährt, greift sie zur Feder. Sie verfasst einen empörten Brief an die Gelehrten der Universität Ingolstadt, in dem sie die Willkür der katholischen Justiz anprangert:

"Ach Gott, wie werdet Ihr bestehen mit Eurer Hohen Schule, da Ihr doch so töricht und gewalttätig handelt gegen das Wort Gottes ... Wenn ich dies so betrachte, dann zittern mein Herz und alle meine Glieder.... Hat Euch das Christus gelehrt oder die Evangelisten, zeigt mir, wo es steht, Ihr Hohen Meister. Ich finde es an keiner Stelle in der Bibel, dass Christus, seine Apostel oder Propheten Menschen eingekerkert, mit dem Feuer bedroht, getötet oder davongetrieben haben. Man weiß sehr wohl, dass man der Obrigkeit gehorchen soll. Aber über das Wort Gottes haben sie nicht zu gebieten, nicht der Papst, nicht der Kaiser noch die Fürsten …"

Es folgen sieben weitere Briefe, unter anderem an den Herzog Wilhelm von Bayern und an Friedrich den Weisen. Ihre Gesinnungsfreunde raten ihr, die Briefe drucken zu lassen und als Flugschriften zu verteilen. Argula ist einverstanden. Innerhalb weniger Monate kursieren ihre Schriften in Tausenden von Exemplaren. Sie erscheinen in 13 Auflagen und sind zu ihrer Zeit kaum weniger verbreitet als die Schriften von Luther selbst.

Die Briefe hinterlassen Wirkung. Doch keiner der Adressaten hat Argula je geantwortet. Stattdessen tauchen Spottgedichte auf, in denen sie als Frau verhöhnt wird, die ihren Platz nicht kennt und ihre Grenzen überschreitet. Ihr Engagement hat Folgen für die Familie. Argulas Ehemann, Friedrich von Grumbach, wird vom Herzog aus dem bayrischen Staatsdienst entlassen. Die Familie mit vier Kindern verliert einen großen Teil ihres Einkommens und gerät in finanzielle Not.

Man bedenke: Wir schreiben das Jahr 1523. Eine einzelne Frau, zwar von Adel und gebildet, aber doch ohne bedeutenden gesellschaftlichen Rang, ohne theologische Ausbildung, noch dazu ein Weib, demnach aus Sicht der damaligen Zeit nicht einmal ein denkendes Wesen, erhebt ihre Stimme gegen die Mächtigen.

Ein ungeheurer Vorgang. So ungeheuer und absonderlich, dass er von der kirchlichen Geschichtsschreibung über Jahrhunderte verdrängt werden musste. Schon Luther, der es mit der Obrigkeit nicht verderben wollte, war das Eisen, das von Argula geschmiedet wurde, wohl zu heiß. Er ließ ihr zwar aus dem fernen Wittenberg über Mittelsmänner liebe Grüße ausrichten, beantwortete jedoch keinen ihrer Briefe und hat sich nie offen für sie eingesetzt.

Wer war diese Frau und was hat sie angetrieben?

Was wir wissen, ist wenig genug: Argula stammt aus dem bayerischen Hochadel, und wächst ist in einem vergleichsweise liberalen Elternhaus auf. Im Alter von 10 Jahren bekommt sie von ihrem Vater eine deutsche Bibel geschenkt, die sie eifrig zu studieren beginnt. Ihre Jugendjahre verbringt sie als Hofdame im bayerischen Herzogshaus. Ihre Ziehmutter Kunigunde, die Schwester von Kaiser Maximilian, vermittelt sie in eine politisch motivierte Ehe zu einem wohl eher grobschlächtigen Landadeligen, die sie als Mesalliance empfinden muss. Sie wird in ein Leben gezwungen, das weit hinter ihren Anlagen und Möglichkeiten zurückbleibt. In den ersten Jahren ihrer Ehe kommt sie mit den Gedanken Luthers in Berührung. Und diese Gedanken sind wohl der Funke, der ihr inneres Pulverfass zur Explosion bringt.

Wer ihre Briefe liest, spürt viel Feuer, eine mächtige emotionale Kraft. Ihr Tonfall ist selbstbewusst und angriffslustig. Sie spickt ihre Briefe mit kundig ausgewählten Bibelzitaten, die nicht nur für die Gedanken der Reformation werben sollen. Sie setzt sich auch für die Gleichberechtigung von Mann und Frau ein, für einen Disput auf der Grundlage rationaler Argumente und ganz allgemein für das Recht auf Selbstbestimmung. Argula ist die erste Reformatorin, die erste Publizistin, die erste Laientheologin, die "die Priesterschaft aller Getauften" ernst nimmt. Aber sie ist eben noch mehr. Vermutlich nicht nach ihrem Selbstverständnis, jedoch in ihrer breiten Wirkung war sie eben auch eine frühe Vorkämpferin für die bürgerlichen Freiheitsrechte in Deutschland.

Ich bewundere Argula von Grumbach für ihren Mut zur Freiheit und frage mich, woher sie diesen Mut bezogen hat. Argula verfügte als gebildete und sensible Frau über ein differenziertes Bild der ungeschriebenen Regeln, die zu ihrer Zeit in der Gesellschaft galten. Sie kannte die Regeln des Anstands und der Moral. Sie hatte ein Bild ihrer Rolle als Frau und Mutter. Und sie wusste um die Verantwortung, die sie für die Zukunft ihrer Familie trägt. Sie hat sich über alle diese Begrenzungen hinweggesetzt, weil ihr eine innere Stimme sagte: Dieser Brief muss geschrieben werden. Sie hat sich die innere Freiheit genommen, ihrem Gewissen zu folgen und dabei in Kauf genommen, dass ihr Handeln von anderen verurteilt wird, nicht nur von der kirchlichen und weltlichen Obrigkeit, sondern auch von ihrer Familie.

Das Beispiel, das sie uns gibt, hat nicht an Aktualität verloren. Im Kleinen erleben wir ihren Konflikt tagtäglich. Im Gespräch mit Freunden oder Kollegen fällt eine Äußerung die uns empört. Wir wollen widersprechen, aber dann halten wir uns vielleicht doch zurück, weil wir befürchten, dass wir uns durch unser Bekenntnis ins Abseits stellen. Es ist klug, dass wir einen Konflikt im Kopf durchspielen, bevor wir ihn nach außen tragen. Da Argula eine kluge Frau war, können wir unterstellen, dass auch sie ahnte, welch hohen Preis sie für ihr Bekenntnis zu entrichten hatte.

Wieso hat sie diesen Preis in Kauf genommen? Argula war im Denken ihrer Zeit weit voraus. Sie hatte eine lange Geschichte der Anpassung hinter sich, unter der sie litt und in deren Verlauf sie sich mehr und mehr von sich selbst entfremdete. Und sie wollte dieser Anpassung ein Ende setzen. Es ging Argula gar nicht so sehr um ihre Wirkung auf andere, und vermutlich wusste sie auch, dass sie dem armen Arsacius durch ihren Brief nicht helfen konnte. Es ging ihr mehr um sich selbst. Ihr Bekenntnis war für sie der Weg, um mit sich selbst ins Reine zu kommen.

Vielleicht ist Ihnen Ähnliches auch schon wiederfahren: Sie leben ein Leben, das nicht mehr das Ihre ist. Vielleicht aus Gewohnheit. Vielleicht auch, weil Sie Erwartungen nicht enttäuschen wollen. Aber Sie spüren: Sie entfernen sich dabei mehr und mehr von sich selbst und schauen sich selbst beim Handeln zu. Die innere Spannung, unter der Sie stehen, nimmt stetig zu. Und dann geschieht etwas, das ihr Fass zum Überlaufen bringt. Sie haben keine Wahl mehr. Das Bekenntnis sprudelt aus Ihnen heraus. Sie müssen sich "outen" und sagen: Seht her! Das bin ich! Hier stehe ich und kann nicht anders.

Manchmal müssen wir andere vor den Kopf stoßen, um uns von einer inneren Last zu befreien, die wir nicht länger tragen können. Vielleicht hat Argula ihren ersten Brief bereut. Vielleicht hat sie sich mit Gewissensbissen gequält. Aber dann hat sie gespürt, dass sie ab jetzt frei war. Sie nutzte ihre Freiheit, in dem sie weitere Briefe schrieb und veröffentlichen ließ. Es hat sie nicht länger gestört, dass sie sich dadurch dem Hohn und Spott ihrer Kritiker aussetzt.

Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich völlig ungeniert. Das ist ein zynischer Satz, in dem aber doch auch eine hilfreiche Wahrheit liegt. Die Reformation, deren Jahrestag wir feiern, wäre wie jede große Erneuerung ohne die Ungeniertheit ihrer Protagonisten nicht möglich gewesen.

Auch Luther war in vieler Hinsicht ungeniert. Das zeigt sich nicht allein in seiner mitunter sehr deftigen Sprache, sondern auch in der Unbekümmertheit, mit der auf andere zugehen konnte, um für die Sache der Reformation zu werben. Heute würden wir sagen: Er war ein guter Netzwerker. Aber auch Luther wurde die Unbekümmertheit nicht in die Wiege gelegt. Von außen ein gestandener Kerl, war er innerlich doch mehr ein Sensibelchen, das sich in Selbstzweifeln und Grübeleien erging. Der junge Luther hatte nur ein Ziel. Er wollte ein gottgefälliges Leben führen. Aber so sehr er sich in seiner Klosterzeit auch anstrengte, sich disziplinierte und kasteite. Der strenge Gott, den er sich in seiner Phantasie ausmalte, schaute auf ihn herab und ließ ihn wissen: Luther, Du bist nicht gut genug. Bis zu jenem Turmerlebnis im Jahr 1513 oder 1515, das in Luthers Leben eine entscheidende Wende war. Als er über einen Bibeltext meditierte, erkannte er, dass die Gerechtigkeit Gottes nicht auf Leistung beruht, sondern jedem Gläubigen als Gnade zuteil wird. Er, Luther, brauchte sich vor Gott nicht durch Taten zu rechtfertigen. Er war in den Augen Gottes genug, weil er glaubte. Dieser Gedanke hat Luther wie ein Blitzschlag getroffen. Er hat ihn innerlich befreit, wohl nicht nur als Theologe, sondern vermutlich auch als Mensch.

Die innere Freiheit, die man dadurch gewinnt, dass man sich von falschen Erwartungen lossagt und sich selbst annimmt, ist die Voraussetzung dafür, dass man ungeniert auf andere zugehen kann. Wenn man aufhört, sich selbst zu bespiegeln, wird man frei für sein Gegenüber. Auch diese Erfahrung hat Luther vermutlich selbst gemacht und in seinem Freiheitstraktat in einer Doppelthese zusammengefasst.

"Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan." Das ist die erste These, die nicht die äußere, sondern die innere Freiheit meint, die wir dadurch erlangen, dass wir den kleinen Teufel in uns zum Schweigen bringen, der ständig von uns fordert, dass wir uns noch mehr anstrengen müssen. Wenn wir unsere inneren Antreiber loswerden, wenn, wie Luther sagt, "das Gewissen getröstet ist", müssen wir uns nicht mehr in Werken beweisen. Da wir nicht länger um uns selbst kreisen, können wir unser Augenmerk nach außen richten und Empathie entwickeln. Deshalb gilt auch die zweite These, die im Freiheitstraktat unmittelbar folgt und von der ersten nicht getrennt werden darf. "Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan."

Meine Freunde rümpfen die Nase, wenn ich mit ihnen über diesen Satz spreche. Denn das Wort Knechtschaft weckt bei ihnen schlimme Assoziationen. Aber die Knechtschaft, die Luther meint, ist eben kein Vasallentum. Knechtschaft will hier nicht als Unterordnung, sondern als Hingabe an das Leben verstanden sein. Wenn ich Knecht bin, will ich nah bei den Dingen sein und nah bei meinen Nächsten. Ich will mich einlassen, will mich für mein Gegenüber offen halten und verstehen, was ich beitragen kann. Und wenn ich verstanden habe, will ich mich einmischen und meinen Teil der Aufgabe gerne erfüllen.

Innere Freiheit und ein liebender Zugang zur Welt sind die zwei Seiten der gleichen Medaille. Karl Jaspers hat das in einem sehr schönen Satz ausgedrückt. Er schreibt: "Heimat ist da, wo ich verstehe und verstanden werde." Gemeint ist nicht die geografische Heimat, sondern das Beheimatet-Sein in sich selbst.

Wenn ich mich in mir geborgen, in mir beheimatet fühle, gewinne ich die Kraft zu lieben. Und es gilt auch das Umgekehrte: Wenn ich liebe, wenn ich mich auf die Knechtschaft im Lutherschen Sinn einlasse, finde ich in mir eine Heimat.

Amen

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