Philipper 2, 1-4

22.07.2012 | 02:00

Dr. H. Gorski

„Liebe“ – liebe Gemeinde – „Liebe besteht nicht darin, dass man einander anschaut, sondern dass man gemeinsam in dieselbe Richtung blickt“. Das schrieb der Dichter des „Kleinen Prinzen“, Antoine de Saint-Exupéry. Dieses Bild, das gewissermaßen die Perspektive wechseln lässt, ist für mich der Schlüssel zu dem Brief, den Paulus an die Gemeinde in Philippi schreibt.

 

Bei mir löst Paulus nämlich – ehrlich gesagt – Beklemmungen aus. Er baut einen enormen Druck auf, einträchtig zu sein, einander zu lieben, sich demütig zu begegnen. Und das auch noch, um ihm eine Freude zu machen – „so macht meine Freude vollkommen“ – bei mir löst das „Fluchtreflexe“ aus. Es mag sein, dass es anderen bei so viel Wunsch nach Liebe und Eintracht warm ums Herz wird. Mir wird es eher eng um die Brust. Und zwar vor allem dann, wenn ich die Menschen, die da angesprochen sind - die Gemeinde in Philippi damals, unsere Gemeinde heute - mir als einen Kreis vorstelle. Ein Kreis von Menschen, die sich anschauen und versuchen, eines Sinnes zu sein, einträchtig, liebevoll, demütig. Das wird doch leicht zu einem Gefängnis moralischer Ansprüche. Denn wo soll ich hin mit all dem anderen, das doch auch da ist: mit den verschiedenen Ansichten, der Uneinigkeit, der Eitelkeit, dem Machtwillen? Ich will nicht immer einträchtig sein müssen!

 

Dieses von mir so empfundene Gefängnis öffnet sich aber, wenn ich die Perspektive wechsele und mir vorstelle: Wir schauen gemeinsam in dieselbe Richtung. Und gerade darin besteht unsere Gemeinsamkeit, dass wir in dieselbe Richtung schauen. Dann bleiben Raum und Freiheit für all die Zwischentöne, die nicht in ein Korsett der Eintracht passen wollen. Man hat die gleiche Ausrichtung, aber man bleibt frei und kann atmen.

 

Genau diese Ausrichtung bilden Kirchen mit ihrer Sitzordnung ab. Kirchen sind, von der Idee her, gebaut wie das himmlische Jerusalem. Mit einer Prachtstraße in der Mitte, Säulen am Rand, und vorne der Altar als Thron Gottes. Ich erinnere mich noch, in meiner ersten Gemeinde in den 80er Jahren (es waren aufmüpfige Zeiten und ich war jung...) hatten wir keine Bänke, sondern Stühle, und fanden es besser, sie nicht mehr in Reihen nach vorne ausgerichtet aufzustellen, sondern in einem großen Kreis. Nach meiner Erfahrung ist uns das nicht gut bekommen. Ob wir uns nun gerade deshalb so viel stritten, will ich nicht behaupten. Ich würde aber aus der Rückschau sagen: Das trägt letztlich nicht. Damit ist nichts gesagt gegen den Wunsch, im Gottesdienst mehr Gemeinschaft zu erfahren. Oder gegen die Sitzordnung bei Gruppengesprächen, Gottesdiensten im kleinen Kreis. Aber wenn man das Tragende in der Gemeinschaft, das Ziel nur in der Mitte des Kreises sucht, dann dreht man sich buchstäblich im Kreis. Man bleibt in sich selber gefangen, in der Gruppe, in eigenen Vorstellungen. Und das reicht nicht, um das Leben zu tragen. Es reicht auch nicht, um zukunftsfähig Gemeinschaft zu leben. Der Glaube ist für mich gerade die Dimension des Lebens, die über das, was Menschen sich im Kreis gegenseitig sagen und geben können, hinausgeht. Deshalb liebe ich inzwischen wieder die Ausrichtung nach vorne: Zum Altar als Zeichen der Gegenwart Gottes unter uns, zu Jesus Christus am Kreuz.

 

Das erste, was von Jesus überliefert ist, ist sein Ruf zur Buße: „Kehrt um, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.“ Sich Jesus zuzuwenden, ist so etwas wie ein Sinneswandel, ein Richtungswechsel im Leben. Dafür steht unsere Sitzordnung. Wir richten uns auf Gott aus, wie ihn uns Jesus gezeigt hat: Ein Gott der Liebe und Freiheit und Toleranz. Und zwar der Gott einer starken Liebe, die, wenn’s sein muss, dem Unrecht entgegentritt, um die Gewalt zu überwinden.

 

Der Sinneswandel, zu dem Jesus uns ruft, richtet uns auf diese Liebe aus. Dann geht es nicht mehr nur um unsere Befindlichkeiten, wer mit wem kann oder nicht, dann geht es um Verantwortung vor Gott, die wir auch füreinander tragen. Nicht nur auf das Eigene zu achten, sondern auch auf das, was dem anderen dient. Da ist sie wieder, die Frage Kains „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“. Ja, du sollst deines Bruders, und deiner Schwester, Hüter sein.

 

Vor 70 Jahren hätte diese Ausrichtung des Lebens auf eine Liebe, die stark genug ist, sich verantwortlich für die Nachbarn zu fühlen und dem Unrecht entgegenzutreten, Menschen das Leben retten können. Ja, es gab Menschen, die aus dieser Liebe Verantwortung übernommen haben, aber zu wenig. Und leider waren es oft auch nicht die christlichen Gemeinden, die dabei vorangegangen wären. So konnte es auch in Blankenese geschehen, dass jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger, Nachbarinnen und Nachbarn, verschwanden, abgeholt wurden, ohne dass es Proteste gegeben hätte. Der „Verein zur Erforschung der Geschichte der Juden in Blankenese“ hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Geschehnisse dieser Zeit zu erforschen und die Erinnerung daran wach zu halten. Alljährlich wird insbesondere des 19. Juli 1942 gedacht, als die Deportation der Menschen aus dem sog. „Judenhaus“ am Steubenweg 36, heute Grotiusweg, begann. Genau 70 Jahre ist das jetzt her.

 

Was der Liebe entgegensteht, ist wohl meistens die Angst. Angst ist sozusagen ein „Liebestöter“. Die Angst, nicht genug für sich selber zu bekommen, nicht genug gesehen zu werden, keinen Platz zu haben, benachteiligt zu werden. So wie bei Kain, der sich von Gott hinter Abel zurückgesetzt fühlte. Angst macht den Mitmenschen zum Konkurrenten um die Liebe. Wo Hass gegen Menschen geschürt wird, wird gerne auf dieser Klaviatur der Angst gespielt. Auch damals hat man damit Stimmung gemacht, dass die Juden angeblich Reichtum auf Kosten anderer angehäuft hätten, den Deutschen ihren Platz wegnähmen. Nicht viel anders klingt es heute, wo der Hass auf Mitbürgerinnen und Mitbürger mit fremder Herkunft, fremder Kultur oder Hautfarbe geschürt wird.

 

Angst gebiert Gewalt. Und vielleicht ist es überhaupt eine Definition von Zivilisation, Angst zu zähmen. Angst muss ernst genommen werden. Aber nicht in der Weise, dass man ihr gestattet, sich gegen Mitmenschen zu wenden. Sondern indem man sie zivilisatorisch in ein Regelwerk bringt, das alle Menschen schützt und in dem alle Menschen in Frieden leben können.

 

Als Christ ist für mich der Glaube eine Botschaft gegen die Angst. Christus hat uns ein Grundvertrauen auf Gott mit ins Leben geben wollen. Es bleibt unsere Lebensaufgabe, dies konkret im Alltag durchzubuchstabieren. Vielleicht ist es diese Aufgabe, bei der sich alle (demokratischen) Teile der Gesellschaft treffen: Die Angst zu zivilisieren und damit der Gewalt Einhalt zu gebieten.

 

Das haben Christinnen und Christen nicht zu allen Zeiten so gesehen. Oft wurde der Gewalt nicht Einhalt geboten, manchmal wurde der Glaube selbst gewalttätig. Die Selbstreinigung der Religionen vom Geist der Gewalt ist eine zwingende Konsequenz aus der Geschichte. Und es ist das, woran uns das Kreuz erinnert, auf das wir blicken: dass die Liebe stärker ist als die Gewalt.

 

Die heile Welt, zu der Paulus die Gemeinde in Philippi drängen will, wird es nicht geben. Nicht hier auf der Erde. Aber Liebe ist möglich, trotzdem. Sie hat eine Chance, wenn wir gemeinsam in dieselbe Richtung blicken, zu diesem Gott, dessen Liebe die Gewalt überwindet. Es Gott nachzutun, heißt nicht, wie Gott sein zu wollen. Sondern ganz im Gegenteil: Mensch zu sein, Mensch zu werden. Ganz bescheiden. Das wäre das Größte, wenn es gelänge.

 

Martin Luther schrieb 1530: „Wir sollen Menschen und nicht Gott sein. Das ist die Summa!“  Amen.

 

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