Predigt zum Reformationstag

31.10.2017 | 11:00

Ich möchte mit einem kleinen geschichtlichen Exkurs beginnen:

Am 12. Oktober 1492, Luther war noch nicht ganz neun Jahre alt, stieß Christoph Kolumbus gegen zwei Uhr morgens auf einen neuen Kontinent.
Er war überzeugt, dass er an einer kleinen Insel Ostasiens angelangt war, und dass die Menschen, denen er am Strand begegnete, Inder waren. Kolumbus hielt sein Leben lang an diesem Irrtum fest. Der Gedanke, dass er einen völlig neuen Kontinent entdeckt haben könnte, war für ihn genauso unvorstellbar wie für viele seiner Zeitgenossen. Jahrtausendelang hatten die größten Gelehrten und vor allem die unfehlbare Heilige Schrift nur von Europa, Afrika und Asien gesprochen. Sie konnten sich unmöglich geirrt haben. Die Bibel konnte doch nicht einfach die Hälfte der Welt übersehen haben?

In seiner Weigerung, sich seine Unwissenheit einzugestehen, war Kolumbus noch ganz ein Mensch des Mittelalters. Er war überzeugt, dass er die ganze Welt kannte und auch seine eigene Entdeckung konnte ihn nicht vom Gegenteil überzeugen.

Der erste modere Mensch war Amerigo Vespucci, ein italienischer Seefahrer, der zwischen 1499 und 1504 an mehreren Expeditionen nach Amerika teilnahm. In verschiedenen Briefen aus dieser Zeit berichtet er davon, dass die Inseln, die Kolumbus gefunden habe, sich nicht etwa vor der Küste Ostasiens befanden, sondern zu einem eigenen Kontinent gehörten, den weder die Bibel, noch die Geografen der Antike noch zeitgenössische Europäer kannten.

Ein angesehener Kartenzeichner, Martin Waldseemüller, ließ sich von diesen Argumenten überzeugen. Im Jahr 1507 druckte er eine aktualisierte Weltkarte, auf die er die entdeckten Inseln erstmals als neuen Kontinent einzeichnete. Da er fälschlicher Weise davon ausging, Amerigo Vespucci sei der Entdecker, beschloss Waldseemüller den neuen Kontinent nach ihm zu benennen: Amerika.
Die neue Weltkarte erfreute sich großer Beliebtheit und wurde zahlreich kopiert. Auf diese Weise verbreitete sich der Name des neuen Kontinents.
So falsch der Name aus der Sicht eines Historikers oder einer Historikerin ist, - ist es im Grunde doch auch gerecht, dass ein Viertel der Welt nach einem unbekannten Italiener benannt ist, an den wir uns heute nur deswegen erinnern, weil er den Mut hatte zu sagen: „Wir wissen es nicht!“.

Das war, wenn man so will, die Geburtsstunde der modernen Wissenschaft und der Moderne: „Wir wissen es nicht!“

Auch wenn Martin Luther sich in seinem Leben nie wirklich für die großen weltpolitischen Dinge interessierte, und die Entdeckung Amerikas an ihm so gänzlich spurenfrei vorüberzog, spiegelt sich in seinem Leben - auf ganz anderer Ebene - dieser epochale Drang nach Weite und Freiheit genauso wieder; nach einem neuen Verstehen- und Begreifenwollen, nach einem Abstreifen von alten, zu eng gewordenen Kleidern und Erklärungen und einem Aufbruch zu neuen Ufern.
Bei ihm sind es Kaiser und Papst gleichermaß
en, in ihrem politisch-kirchlichen Bündnis, denen er gegenübertritt und ihnen sagt: „Wir wissen es nicht!“
Wir wissen eigentlich gar nichts über die Gnade Gottes, außer, dass sie eben nicht durch Ablassbriefe und nicht durch eine verfasste Gnadenlehre der Kirche zu erwerben ist.

Wir wissen nichts über Gott selber, ein verborgener Gott ist er. Und das Abbild von Gottes Herrlichkeit, das die Kirche mit all ihrem Prunk und Protz darzustellen versucht, ist nur ein erbärmlicher Ausdruck menschlicher Gier und Verkommenheit.

Mit aller Wucht und getrieben von einem tiefen Glaubensdurst hat sich der junge Luther hineingestürzt in für ihn unlösbare Fragen, nach der Gerechtigkeit Gottes, nach Barmherzigkeit, nach Erlösung…
Bis er, - genährt auch von Menschen die vor ihm schon auf der Suche waren wie John Wycliff und vor allem Jan Huss aus Prag, und begleitet von seinem Mentor und Beichtvater, Johann von Staupitz, dann schließlich selbst bei Paulus fündig wird und einen für ihn neuen Kontinent entdeckt: eine neue Gerechtigkeit Gottes, die Justitia dei, die Rechtfertigung allein im Glauben. Und Luther wird Entdecker und Kartenzeichner in einer Person.

In seinen inneren Kämpfen hat sich Luther trotzig und verzweifelt mit Haut und Haar seinem Suchen ausgeliefert.
Vielleicht ist es dieses Gefühl der Verlorenheit, mit dem er auf dem Acker des Glaubens, in dem Weinberg Gottes die Tür einen Spalt weit aufstößt in Richtung Neuzeit.

Die Kirche konnte ihm keinen Halt, keine Antworten und schon gar keine Heimat mehr geben. Verstoßen hat sie ihn, heimatlos gemacht und geächtet.

Eine neue Heimat und seinen eigenen Trost fand er seiner neuen Lesart der Bibel. Fand er in dem Wort Gottes, in dem ihm Gott selber gegenübertrat. Fand er in dem Glauben an Jesus Christus, der jedem Menschen ein neues Leben möglich machte.

Sinnstiftend blieb für Luther die Bibel, die er fast auswendig kannte, die er allen Menschen durch seine Übersetzung zugänglich machte und die ihm und allen Menschen den wahren Glauben an Christus und damit die wahre Freiheit schenkte.

Sinnstiftend blieb die Bibel, die Verantwortung aber für den eigenen Sinn im Leben wanderte von der alten Heimat Kirche hin zu den Menschen selbst, die mit ihrem Glauben eine Art neue unsichtbare Kirche erbauen sollten.

So pessimistisch Luthers theologisches Menschenbild auch war, weil er den Menschen für zutiefst sündig und schuldbeladen und für erlösungsbedürftig hielt, so optimistisch war sein Vertrauen, dass die Menschen verantwortungsvoll mit dieser neuen Freiheit im Glauben umgehen würden.

Es war wie ein Geist, den er aus der Flasche gelassen hatte, und der nun nicht mehr zurückzuholen war, und er gesellte sich zu den vielen anderen Geistern der Freiheit, die in jener Zeit woanders und aus ganz anderen Motiven heraus überall die Gedanken der Menschen eroberten.

Während des Bauernkrieges sah Luther sich dann zum ersten Mal den Wirkungen dieses Geistes, den Auswüchsen auch seiner Gedanken hilflos ausgeliefert.

Und zu dem prophetischen Reformator, der er bis zu seinem Tode - ohne jeden Zweifel - und bis heute blieb und bleibt, gesellte sich auch der obrigkeitstreue Realpolitiker.
Vieles hat Luther bereitet, vorbereitet, auch in Wege geleitet, die er niemals im Sinn hatte, weil er so noch gar nicht denken konnte oder so niemals denken wollte.
In Vielem war und blieb er ein Kind seiner Zeit, des späten Mittelalters, in vielen war er mutiger und rebellischer als andere, ein Prophet Gottes - und in Einigem war er weit voraus.

Wir haben viel gehört und erfahren in dem zurückliegenden Jubiläumsjahr über Martin Luther. Dieses Jahr hat auch mir persönlich den Reformator meiner Kirche an vielen Stellen noch einmal wieder nahe und näher gebracht.

Und mir ist dann auch nochmal wieder so deutlich und bewusst geworden, dass meine Treue und Verbundenheit zu eben diesem Teil der christlichen Kirche - dem evangelisch-lutherischen Teil - ja eigentlich in erster Linie dem Umstand geschuldet ist, dass meine Eltern mich evangelisch taufen ließen, die ihrerseits von ihren Eltern evangelisch getauft wurden, weil einst Johannes Bugenhagen in Hamburg eine evangelische Kirchenordnung etablierte und Hamburg sich damals ohne Widerstand dieser neuen Glaubensrichtung anschloss. Auch der dreißigjährige Konfessionskrieg hat Hamburg relativ in Ruhe gelassen, sodass der Protestantismus hier seine eigenen Wurzeln fassen konnte.

Bis sich mir der katholische Teil meiner Kirche erschloss, war ich selber längst viel zu tief hineingewachsen in meine eigene Kirche. Was mich aber nicht davon abhielt, mich insbesondere den vorreformatorischen, klösterlichen und mystischen Traditionen des Christentums zuzuwenden und ihre Schätze zu entdecken.

Ich habe es ja schon manchmal auch an dieser Stelle gesagt, dass ich die Trennung der Kirche durchaus sehr bedaure, mit Sympathie für beide Seiten. So waren größere und kleine ökumenische Annäherungen für mich deutliche Höhepunkte in diesem Jubiläumsjahr.

Luther ist kein Heiliger - nichts lag ihm selbst ferner; - keine Ikone. Luther bleibt ein Rebell der Kirchengeschichte, mit vielen notwendigen, häufig guten und manchen großartigen Impulsen.

Und wo stehen wir heute? Nach 500 Jahren Reformation?

Es dauerte noch Jahrhunderte, bis wir annähernd von Freiheit sprechen können, wie wir sie heute verstehen.
Luther selbst verstand Freiheit paradoxerweise in einem eigenen, unfreien menschlichen Willen und in einer Hingabe an Jesus Christus, einer Unterwerfung unter den Willen Gottes.

Der freie menschliche Wille hat es dagegen heute bis ins Grundgesetz geschafft und ist so etwas wie das erste Gebot des Humanismus geworden.
Davon will auch keiner mehr zurück! Gewiss nicht!

Aber um eines kommen wir bei all dem trotzdem nicht herum: Bei all der großartigen und wichtigen Wertschätzung dem Menschen selbst und dem menschlichen Leben gegenüber, die die letzten Jahrhunderte mit sich gebracht haben, bei allen reformatorischen und auch revolutionären Prozessen und Entwicklungen, die den Menschen immer freier werden ließen, bei all den Fortschritten, die seitdem geschehen sind, liegt es dann doch in uns: Dass wir selber eine Antwort finden müssen auf den Sinn und die Sinnhaftigkeit unseres Lebens.

Die weißen Flecken auf den neuen Weltkarten im 16. Jahrhundert haben sich längst gefüllt, dafür kommen heute täglich neue, andere weiße Flecken dazu.

Kriege sind - Gott sei's gedankt - immer weniger geworden, aber sie führen auch heute noch zu dramatischen Flüchtlingswellen. Klimawandel und eine wachsende Ungleichheit fordern uns heraus. Und langfristig sollten wir uns die Frage stellen, ob künstliche Computer-Intelligenzen den Menschen nicht irgendwann abgehängt haben werden.

Wenn ich Luther modern verstehe, dann würde ich mit ihm sagen: Der Sinn besteht tatsächlich darin, mein aller Wahrscheinlichkeit nach doch eher begrenztes menschliches Bewusstsein für ein größeres Bewusst-Werden zu öffnen. Indem ich meinen eigenen menschlichen Willen nicht so wichtig nehme, ihn schließlich sogar ganz lassen kann für einen größeren göttlichen Willen. Das wäre heute schon fast Rebellion!
Indem ich mein eigenes Getrenntsein, von dem, was mich im Leben umgibt, die ganze Welt, - oder biblisch: die ganze Schöpfung - aufgebe für ein Verbundensein mit allem. Indem der Mensch sich selber heilig gesprochen hat auf dem Weg zu seiner Freiheit, hat er die Heiligkeit Gottes unterwegs aus dem Blick, mancherorts auch ganz verloren. Aber beides gehört zusammen.

Amen

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