1. Korinther 12 | Schule evangelisch denken
Viktoria M. Schmidt (Bugenhagenschulen)
Fastenpredigtreihe Schöpfung und Umweltförderunge
"Viele Glieder - ein Leib"
Liebe Gemeinde,
machen Sie Ihrem Herzen doch mal so richtig Luft! Vielleicht tun Sie es ja sogar ab und an – das dürfte typbedingt sein. Und wenn Sie es nicht laut tun, dann aber sicher im Stillen, sozusagen in Tagträumen, inneren Selbstgesprächen oder nächtlichen Träumen. Da haben wir schon manchem die Meinung gesagt oder unserem Zorn über die Menschheit insgesamt freien Lauf gelassen. Im Hydepark in London gibt es eine Ecke, wo man das sogar ungestraft laut tun kann, „speakers corner“. Es ist mir aber auch schon in Hamburg passiert, ich erinnere mich einmal an eine Situation in der Mönckebergstraße, wo sich jemand auf den Rand des Brunnens gestellt hatte und über die Zustände in der Welt wetterte. Die Passanten reagierten unterschiedlich: von gleichgültig über unsicher, peinlich berührt bis interessiert.
Was passieren würde, wenn Johannes der Täufer sich heute auf die Mönckebergstraße stellen würde...? Themen, bei denen von Umkehr die Rede ist, gibt es auch heute genug. Wir brauchen eine Umkehr in der Klimapolitik, aber vielleicht auch in der Sozialpolitik oder in unserem ganzen Lebensstil. Aber brauchen wir Bußprediger?
Johannes damals scheint viel Zulauf gehabt zu haben. Er predigte mit Zitaten aus der hebräischen Bibel, kündigte einen Retter an und rief zur Umkehr auf. Dazu hatte er sich in die Wüste zurückgezogen. Und die Leute kamen scharenweise. Das aber scheint Johannes erst recht in Rage gebracht zu haben. Er beschimpft die Leute als „Schlangenbrut“ und geißelt ihre Selbstgerechtigkeit.
Im Bericht des Lukas über diesen Vorgang scheint hier etwas zu fehlen. Denn irgendwie bleibt es scheinbar grundlos, dass Johannes über seine Zuhörer so herfällt. Er muss den Eindruck gehabt haben: Das ist Applaus von der falschen Seite. Sie klatschen, wenn ich von Umkehr rede, aber sie meinen nur die anderen, nicht sich selbst. Für sich selbst scheinen sie das Rechthaben gepachtet zu haben.
Das erinnert an das, was man heute „Stammtischdenken“ nennt, auch wenn es sich vielleicht in Nadelstreifen beim Prosecco abspielt. Da sind dann alle Ausländer faul und kriminell und die Harz-IV-Empfänger sowieso nur arbeitsunwillig. So sehr ich die Schweiz schätze, aber in ihren Volksabstimmungen scheint sich gelegentlich auch so eine Haltung Bahn zu brechen: Alle straffälligen Ausländer einfach raus – das klingt so klar und einfach. Ist es das wirklich?
Aber ich kenne solche Gedanken in Tagträumen ja selber. Und meine Verzweiflung darüber, dass ich der einzige vernünftige Mensch auf der Welt bin, während die anderen doch ziemlich....
Bußpredigten sind also nicht so einfach. Da wo sie Beifall finden, kann es der Beifall von falscher Seite sein, selbstgerechter Beifall, der selber der Buße bedarf. Aber auch die Bußprediger – wenn man nicht ein Heiliger ist – verfallen leicht in Selbstgerechtigkeit und vergessen, dass auch sie der Buße bedürfen. Vielleicht kann man sich dem Thema Bußpredigt deshalb nur mit einer humorvollen Brechung nähern, in die man sich mit etwas heiterer Selbstdistanz selber einbezieht. Dazu hat Hans Magnus Enzensberger ein schönes Gedicht geschrieben:
„Einfach vortrefflich
All diese großen Pläne:
das Goldene Zeitalter
Das Reich Gottes auf Erden
Das Absterben des Staates.
Durchaus einleuchtend.
Wenn nur die Leute nicht wären!
Immer und überall stören die Leute.
Alles bringen sie durcheinander.
Wenn es um die Befreiung der Menschheit geht
Laufen sie zum Friseur.
Statt begeistert hinter der Vorhut herzutrippeln
Sagen sie: Jetzt wär ein Bier gut.
Statt um die gerechte Sache
Kämpfen sie mit Krampfadern und mit Masern.
Im entscheidenden Augenblick
Suchen sie einen Briefkasten oder ein Bett.
An den Leuten scheitert eben alles.
Mit denen ist kein Staat zu machen.
Ein Sack Flöhe ist nichts dagegen.
Man kann sie doch nicht alle umbringen!
Man kann doch nicht den ganzen Tag auf sie einreden!
Ja, wenn die Leute nicht wären
Dann sähe die Sache schon anders aus.
Ja wenn die Leute nicht wären
Dann gings ruckzuck.
Ja wenn die Leute nicht wären
Ja dann!
(Dann möchte auch ich hier nicht weiter stören.)“
Wir haben nun mal keine anderen Leute als uns selber. Irgendwie müssen wir mit uns leben. Aber wie? Der Weg, den Johannes geht, ist der Weg der praktischen Schritte. Wer zwei Hemden hat, soll dem eins geben, der keins hat. Den Zöllnern und Soldaten sagt er nicht, sie sollen ihren Beruf aufgeben, sondern im Rahmen ihres Berufes fair und korrekt bleiben: Nicht mehr fordern, als vorgeschrieben ist. Und von niemandem mit Gewalt Geld erpressen. Aber was so pragmatisch aussieht, ist radikal gemeint: Die Axt ist schon an die Bäume gelegt. Wer nicht pariert, der wird vernichtet.
Auf dieser Linie könnte man heute weiterdenken und sagen: Glühbirnen gegen Sparbirnen austauschen; das Auto stehen lassen, wenn man Brötchen holen will; beim Kleidungskauf auf faire Herstellungsbedingungen achten. Auch das ist radikaler, als es aussieht. Denn wenn uns das nicht gelingt – welche Chancen haben wir in dieser Welt dann noch? Ist die Axt schon an uns gelegt? Bringen uns Bußpredigten wirklich voran? Wie leiten wir unseren Zorn in Bahnen, so dass er fruchtbar werden kann, statt zu zerstören?
Von den Psychologen habe ich einen interessanten Satz gelernt: „Was man denken kann, muss man nicht tun.“ Wer in der Lage ist, seinen Zorn zu fühlen und in Gedanken zu fassen, der muss ihn nicht ausleben. Wenn ich meinen Zorn gegen einen Menschen in Gedanken ausleben kann, kann ich ihm in der Realität wieder freundlich und barmherzig begegnen.
Es gibt von dem Marburger Theologen Henning Luther das schöne Wort vom „Leben als Fragment“. Damit nimmt er auf, was Paulus über unsere Unvollkommenheit schreibt. Dass kein Mensch durch seine Perfektion gerecht wird, sondern nur durch die Gnade Gottes. Und im Alltag unter Menschen heißt das: Nur mit Barmherzigkeit für unsere Unvollkommenheit werden wir friedlich zurechtkommen. Dafür steht dieses Wort „Leben als Fragment“. Mein Leben wird unvollständig bleiben, selbst wenn es gut gelingt. Ich finde das entlastend. Im Grunde ist das ja Luthers reformatorische Entdeckung, nur in heutiger Sprache. Es ist ein Irrweg, wenn wir uns gegenseitig unsere Fehler vorhalten. Wir brauchen die Akzeptanz dafür, dass unser Leben ein „Fragment“ ist und bleiben wird. Bis Gott am Ende unser Leben heil und ganz machen wird.
Aber – und das gehört für mich zum Kern des Glaubens – zornige Bußpredigt und das Evangelium vom Leben als Fragment brauchen sich gegenseitig. Die Bußpredigt ohne die Barmherzigkeit des Evangeliums wird im Extremfall zu einem selbstgerechten Vernichtungsfeldzug. Davon gab es schon so manche. Aber das Evangelium ohne den Zorn der Bußpredigt würde seine Kraft verlieren. Barmherzigkeit mit unserem fragmentarischen Leben heißt ja nicht, und darf nicht heißen: na, dann ist sowieso alles irgendwie egal. Und da sowieso alles relativ ist, können wir uns bequem um Friseur und Krampfadern kümmern und uns ein Bier einschenken. „Was man denken kann, muss man nicht tun.“ Wir brauchen unsere zornigen Gedanken, damit wir barmherzig, aber trotzdem klar und entschieden leben können. Deshalb ist Johannes der Täufer mit seiner Bußpredigt als Vorläufer Jesu nicht sozusagen eine bloße Vorstufe, die man dann überwindet und hinter sich lassen kann. Und deshalb macht es auch Sinn, jedes Jahr in der Adventszeit zur Vorbereitung auf die Geburt Jesu wieder an Johannes den Täufer zu erinnern. Weihnachten ohne die zornige Bußpredigt zuvor würde leicht zu einem reichlich banalen „Fest der Liebe“ werden, das mit oberflächlichem Lichterglanz wirkungslos verhallt. Johannes und Jesus stehen, so gesehen, auch für zwei Seiten in unserer Seele, die sich gegenseitig brauchen. Der Zorn ohne die Liebe würde uns zu Unmenschen machen. Aber die Liebe ohne den Zorn würde ihre Kraft verlieren. Aus unseren zornigen Gedanken beziehen wir die Energie, um unsere Liebe klar und entschieden in die Tat umzusetzen. Noch provozierender auf den Punkt gebracht: Der Zorn ist der Motor der Liebe.
So erlauben Sie mir denn zum Schluss schmunzelnd zu sagen: Denken Sie zornig. Aber leben Sie liebevoll. Dann kann es Weihnachten werden. – Und nun möchte ich hier wirklich nicht weiter stören. Amen.