Volkstrauertag: Röm 8, 18-23

13.11.2016 | 11:00

Liebe Gemeinde,

Der Mensch ist seinem Wesen nach egoistisch und auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Das Miteinander, das Leben mit anderen Menschen, ist ein Konkurrenzkampf. Der Bessere, der Stärkere, der in welcher Form auch immer Überlegene gewinnt.

Dieser Meinung schlossen sich mehrheitlich Oberstufenschülerinnen und -schüler an, die an einer Umfrage zu diesem Thema teilnahmen.

Ist das so? Ist das eine realistische Einschätzung?
Funktionieren unser Leben, unser Miteinander, unsere Gesellschaft, unser Wirtschaftssystem nach diesen Gesetzmäßigkeiten, weil es vielleicht so etwas wie ein Egoismus-Gen im Mensch gibt, das sich nicht abstellen lässt?

Ich glaube nicht, dass so ein Denken und Verhalten genetisch vorbestimmt sind, trotzdem würde ich zustimmen: Ja, Vieles, und Entscheidendes in unserer Gesellschaft und Wirtschaft funktionieren genauso.
So sind die Gesetze des Marktes. Und irgendwie möchte man selbst ja auch ein großes Stück vom Kuchen abbekommen.

Die Religionen sind in diesem Zusammenhang eine schwache Kraft. Viele halten sie sowieso eher für eine Privatsache, die sich in der Öffentlichkeit zurückhalten sollte.
Und solange sich das, was gerade wieder einmal an einleuchtenden Gedanken, an ethischen Aussagen und an gelebter Spiritualität auf den Tafeln der Weltethos-Ausstellung hier in der Kirche zu lesen ist, sich nicht konkret in politischen und wirtschaftlichen Strukturen niederschlägt, wird all die Kraft und Klarheit jener Worte und Gedanken schwach bleiben.

Martin Luther hat mit seiner viel später erst verzerrt wiedergegebenen Zwei-Reiche-Lehre eine Obrigkeit, eine Regierung, gefordert, die die Gesetze des Evangeliums zum Maßstab ihres Handelns macht. Kaum vorstellbar.

Nun haben wir heute einen Predigttext, in dem es unter anderem auch um Aussagen über das Menschsein geht. Paulus spricht dort auch über sein Menschenbild, das nach anderen Kriterien als denen des Marktes oder der Konkurrenz entworfen ist.

Ich lese den Text aus Römer 8:

Denn ich bin überzeugt, - schreibt Paulus - dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll. Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, dass die Kinder Gottes offenbar werden. Die Schöpfung ist ja unterworfen der Vergänglichkeit – ohne ihren Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat –, doch auf Hoffnung; denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick seufzt und in Wehen liegt. Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir den Geist als Erstlingsgabe haben, seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlösung unseres Leibes.

Man hat diesen Text sehr häufig auf ein kommendes Jenseits gedeutet, in dem die "Knechtschaft der Vergänglichkeit", von der Paulus schriebt, schließlich ein Ende gefunden hat und alle Kinder Gottes in einer herrlichen Freiheit Erlösung finden.

Aber warum? Warum projiziert man diese Freiheitsbotschaft in ein Jenseits? Heraus aus allen Bezügen unseres irdischen Lebens? Jesus selbst hat doch davon gesprochen, dass das Reich Gottes jetzt schon mitten unter uns ist, wenn es auch lange noch nicht vollendet ist. Trotzdem ist es jetzt schon da.

Und so verstehe ich jene "herrliche Freiheit der Kinder Gottes" auch als eine Beschreibung von menschlichen Möglichkeiten und Wesenszügen, die wir alle jetzt schon in uns tragen, die wesenhaft zu uns dazugehören.
Was aber meint dann diese "Freiheit von der Knechtschaft der Vergänglichkeit"?

Ein Beispiel dazu.

Stellen wir uns vor, ein junger Kreativer ist in einer Werbeagentur angenommen worden. Und nach einem Jahr lädt er ein zu einem großen internen Meeting, weil er ein paar grundsätzliche Frage diskutieren möchte.
Und es kommen auch alle und er bedankt sich. Und sagt: "Manchmal stelle ich mir die Frage, – was machen wir eigentlich? Um Produkte zu verkaufen kreieren wir Wünsche und Sehnsüchte, die gar nicht erfüllt werden können. Wir zeigen die perfekte super feminine Frau, und den perfekten superproportionierten Mann, der Frauen und Männer eigentlich grundsätzlich nur unglücklich macht, um Produkte zu verkaufen, die weit weg, vielleicht in China produziert werden, die den Planeten kaputt machen. Die wir meisten nur einmal benutzen und dann wegschmeißen. Also: Was machen wir hier eigentlich. Das will ich gerne mit euch diskutieren."

Ich kann mir vorstellen, dass diese Person wahrscheinlich keine lange Karriere machen wird.

Das ist ein zufälliges Beispiel. Ich denke aber, Ähnliches könnten wir über viele andere Arbeits- und Lebensbereiche auch sagen: Da, wo man anfängt, innere Fragen, Menschliches und wesenhafte Fragen mit ins Spiel zu bringen, funktioniert man selbst nicht mehr, funktioniert auch das System nicht mehr,

Natürlich denkt Paulus mit seiner Formulierung von der "Knechtschaft der Vergänglichkeit" an die grundlegende Vergänglichkeit menschlichen Lebens, an unser Sein zum Tode, dass wir alle nämlich irgendwann sterben werden. Auf ein diesseitiges Leben bezogen, könnte man sich aber auch die Frage stellen, welchen Bildern, welchen Ansprüchen, Vorgaben, Maßstäben und Zwängen bin ich unterworfen? Von außen wie auch von innen?

Paulus spricht diese Fragen an, Paulus fragt: Was machen wir eigentlich? Wer sind wir eigentlich?

Und er entwirft dieses Menschsein auf der Basis dessen, was er "Kindschaft Gottes" nennt. Er spricht von den Kindern Gottes. Und da er einer der ersten war, der Jesus selbst als Sohn Gottes verstanden hat, als Kind Gottes, wird damit auch deutlich an welchen Maßstäben und Kriterien diese Kindschaft Gottes sich orientiert: an Jesus selbst.

Und das ist ein anderes Bild vom Menschen. Ein Bild, das Menschsein nicht reduziert auf ein Funktionieren und auf ein Wildgehege, in dem der oder die Stärkere siegt.
Menschsein berücksichtigt hier genauso auch die inneren Sehnsüchte und Wünsche, Menschsein heißt hier, dass nicht nur die starke, dominierende Seite hervortreten soll, sondern auch eine Verletzlichkeit und eine Sanftheit Platz haben dürfen. Menschsein ist nicht begrenzt auf Rationalität, wie es in den allermeisten Arbeits- und Schul – und Lernorten gefordert ist, sondern zum Menschsein gehören genauso auch Emotionen, gehören Intuition und Spiritualität.

Das Menschenbild der Bibel, in das Paulus sich einordnet, sieht im anderen Menschen nicht den Wolf, vor dem man auf der Hut sein muss, den es gegebenenfalls zu bekämpfen gilt, sondern einen Menschen, mit dem ich eine Beziehung aufbauen kann.
Schon das christliche Gottesbild ist ein Ursymbol für die Beziehungshaftigkeit unseres Glaubens. Und unseres Wesens. Wo Vater, Sohn und Heiliger Geist in einer lebendigen Dynamik miteinander verwoben sind. Wir nennen dies die Dreieinigkeit.

Paulus entwirft das Bild vom Leib Christi, in dem jeder und jede mit ganz eigenen Begabungen und Möglichkeiten zugehörig sein kann. Und Martin Buber hat die Beziehung selbst zu dem Fundament seiner religionsphilosophischen Überlegungen gemacht.

Wenn wir die Nachfolge Christi bislang immer als einen freiwilligen ethischen Impuls betrachtet haben, könnte man mit Paulus auch meinen, dass darin wesenhafte Züge menschlichen Seins sichtbar werden:

Wie könnte man dann Menschen beschrieben?

Sie handeln gewaltfrei und mutig.

Sie sind bereit, sich für andere hinzugeben.

Sie stärken vielfältiges und unterschiedliches Menschsein.

Sie ordnen das Ego dem Selbst unter.

Sie sind Wanderer, Suchende.

Sie leben aus der Geistkraft Gottes.

Sie verwerfen Beherrschungssysteme.

Sie haben Disziplin.

Sie sind wie die Kinder.

Sie teilen Macht.

Sie wissen, dass ihnen vergeben ist.

Sie suchen Ganzheit.

Sie ermächtigen zum Heilen und dem Austreiben böser Geister.

Sie sind ein Segen für die Armen, Trauernden, Hungrigen und die Verfolgten.

Sie lieben ihre Feinde.

Sie sind barmherzig.

Sie leiden mit anderen.

Man kann diese Aufzählung gewiss ergänzen.

Wer sagt uns denn, dass der Mensch seinem Wesen nach egoistisch und auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist? Warum müssen wir das glauben, dass das Miteinander, das Leben mit anderen Menschen, ein Konkurrenzkampf ist. Dass immer nur der Bessere, der Stärkere, der in welcher Form auch immer Überlegene gewinnt?

Wie Paulus schreibt: ...das ängstliche Harren der Kreatur, unsere Welt nämlich, wartet darauf, dass die Kinder Gottes offenbar werden.

Amen

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