Exaudi - Römer 8, 26-30
Liebe Schwestern und Brüder,
mit Interesse studiere ich regelmäßig die Gemeindebriefe unserer Altonaer und Blankeneser Gemeinden und traf kürzlich auf die Ankündigung einer Friedhofsandacht mit dem Titel „Der Schöpfung ganz nah“. Ich hatte schon weitergeblättert, da wurde ich unsicher, was ich eben gelesen hatte: Hatte es geheißen „Der Schöpfung ganz nah“ oder „Der Erschöpfung ganz nah“? Ich blätterte zurück und sah, natürlich, es hieß „Der Schöpfung ganz nah“ (ist ja für eine Friedhofsandacht auch passender...!) – ich musste lachen. Schöpfung – Erschöpfung... Aber damit war eine Gedankenkette losgetreten, die ich nicht mehr stoppen konnte. Ich sammelte lauter Sätze, Redewendungen und Begriffe mit dem Wort „Schöpfung“ und probierte aus, ob sie auch Sinn ergeben, wenn man „Schöpfung“ gegen „Erschöpfung“ austauscht. Und so kamen zustande: Der Mensch ist die „Krone der Schöpfung“ – die Krone der Erschöpfung... Man spricht von den „Herren der Schöpfung“ – die Herren der Erschöpfung... Seit 20 Jahren spricht man in der Kirche von der „Bewahrung der Schöpfung“ – die Bewahrung der Erschöpfung.... In den Psalmen finden wir das „Lob der Schöpfung“ – das Lob der Erschöpfung... Am Anfang des 1. Mosebuches gibt es zwei Schöpfungsberichte – das wären dann also „Erschöpfungsberichte“... Und früher sprach man von dem, wie Gott Tag und Nacht geordnet hat, als von der „Schöpfungsordnung“ – die „Erschöpfungsordnung“... „Der Geist nimmt sich unserer Schwachheit an; denn wir wissen nicht, was wir eigentlich beten sollen; der Geist selber jedoch tritt für uns ein mit wortlosen Seufzern.“ (Vs 26, Zürcher Bibel 2007). Ein Predigttext – wie für uns gemacht in einer Zeit, in der Müdigkeit und Erschöpfung zu den alltäglichen Plagen der Menschen gehören und viele Menschen über ihre Schwachheit seufzen. Insofern kein Wunder, dass ich bei „Schöpfung“ an „Erschöpfung“ gedacht hatte. Das Thema der „Erschöpfung“ liegt obenauf und betrifft ja manche von uns vielleicht auch selber. Viele Eltern sind erschöpft, mit Kindererziehung, Beruf, manchmal alleinerziehend. Am Arbeitsplatz ist der Druck immer größer geworden, das erleben wohl fast alle Berufstätigen so. Das Leben auf den Straßen ist unter dem Druck so schnell geworden, dass es einen richtig erschöpft machen kann, Bus oder Bahn zu fahren, einzukaufen oder die Straße zu überqueren. Und wir erleben die Erschöpfung auch da, wo wir mit anderen zu tun haben oder von anderen abhängig sind: Wer im Krankenhaus liegt oder auf Hilfe oder Pflege angewiesen, erlebt, unter welchem Druck Ärzte, Schwestern und Pfleger heute arbeiten müssen, immer mit dem Blick auf die Uhr, wenig Zeit für ein persönliches Wort. Das Wortspiel von den „Herren der Erschöpfung“ passt da irgendwie ziemlich gut.... „Der Geist nimmt sich unserer Schwachheit an; denn wir wissen nicht, was wir eigentlich beten sollen; der Geist selber jedoch tritt für uns ein mit wortlosen Seufzern.“ Es ist interessant, dem Wortspiel Schöpfung – Erschöpfung noch genauer auf den Grund zu gehen. Wörtlich meint „Er--‐schöpfung“ ja in etwa: Wenn man viel geschaffen oder geschafft hat, dann ist man hinterher „geschafft“, „erschöpft“. Man sagt auch: Ein Thema sei erschöpfend behandelt oder eine Aufgabe erschöpfend erledigt, also umfassend, abschließend. Schöpfung und Er--‐schöpfung hängen also tatsächlich eng zusammen; mein Missverständnis beim Lesen war gar nicht so falsch. Nach der Schöpfung, wenn man etwas geschafft hat, ist man er--‐schöpft. Insofern wäre es ja zuallererst Gott selber, der ein Recht hätte, er--‐schöpft zu sein. Es heißt aber im 1. Schöpfungsbericht (1. Mose 2, 2--‐3): „Und so vollendete Gott am siebenten Tag seine Werke, die er machte, und ruhte am siebenten Tage von allen seinen Werken, die er gemacht hatte. Und Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn, weil er an ihm ruhte von allen seinen Werken.“ Damit ist auch schon das Rezept gegen die Erschöpfung benannt: Zu ruhen. Gott hat seiner Schöpfung ein Mittel gegen die Er--‐Schöpfung gleich mitgegeben: Ab und zu, zwischendurch und in regelmäßig Rhythmen sich eine Pause, sich Ruhe zu gönnen. Und diesen Gedanken hat die Bibel tief verankert im menschlichen Leben, im Rhythmus von Tag und Nacht, im Rhythmus der Woche, in den Regeln für Lohnarbeiter, im Erlass von Schulden alle sieben Jahre Gott hilft unserer Schwachheit auf, indem er uns die Rhythmen von Tag und Nacht, von Alltag und Sonntag, von Arbeitstagen und Urlaub, von Arbeit und Ruhe geschenkt hat. Vielleicht bräuchten wir nichts anderes zu tun, als uns wieder in sie hineinfallen zu lassen – sie sind ja da! Wir leben nur gegen sie. Wie schön, dass für viele von uns jetzt wohl ein Urlaub nahe rückt. Für mich in diesem Sommer eine ganz besondere Auszeit: Ich verabschiede mich heute in eine dreimonatige Sabbatzeit! Mich beschäftigt die Frage, was eigentlich genau geschieht, wenn der Geist unserer Schwachheit aufhilft und wortlos für uns seufzt. Aus der Pädagogik der Kindertagesstättenarbeit gibt es den schönen Begriff „Resilienz“. Er bezeichnet so etwas wie die Widerstandsfähigkeit eines Menschen, auch mit den schwierigen Faktoren in seinem Leben zurechtzukommen. In einem Handbuch der Kindergartenpädagogik habe ich gelesen: „Resilienz ist die Fähigkeit, sich zu wehren. … die Fähigkeit, Schwierigkeiten zu meistern. … die Fähigkeit, Rückschläge auszuhalten. … die Fähigkeit, die Wunden der eigenen Seele zu heilen. … der Wille zu überleben. … die Disziplin, Herausforderungen anzunehmen.“ In unserer Arbeit mit Kindern ist es das erklärte Ziel, das Evangelium so in den Seelen der Kinder ankommen zu lassen, dass sie zu --‐ in diesem Sinne --‐ resilienten, starken, widerstandsfähigen Menschen heranwachsen. Mir scheint, genau dies bewirkt Gottes Geist in uns. Es ja eine allgemeine, aber trotzdem interessante Beobachtung, dass nicht immer die Menschen am leichtesten durchs Leben kommen und am glücklichsten sind, die es – äußerlich gesehen – leicht haben. Oft strahlen gerade Menschen, die es nicht leicht hatten, sich durchkämpfen und Schicksalsschläge bewältigen mussten, eine überwältigende Festigkeit und Zufriedenheit aus. Es scheint so etwas in uns zu geben, das uns stark machen kann. Die Pädagogik nennt das Resilienz. Theologisch deute ich es als das Wirken des Geistes. Und beide Seiten haben irgendwie Recht mit ihrem Blick auf dasselbe Phänomen: Man kann Menschen helfen, solche Widerstandsfähigkeit zu entwickeln. In der Pädagogik, aber auch durch alles, was wir in unseren Kirchengemeinden tun: Durch Gottesdienst, Predigt, Lieder, Gebete, Gemeinschaft, Diakonie usw. Und doch bleibt diese Kraft unverfügbar. Es ist tatsächlich so, als ob ein anderer in mir für mich seufzt und stark ist. Das griechische Wort für „seufzen“ bedeutet gleichzeitig: Kräfte sammeln. Eine Kraft, die ich nicht gemacht habe. Die wir fördern und um die wir bitten können, aber über die wir nicht verfügen können. Eben Gottes Geist. „Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Guten dienen.“ (Vs. 28) Starke Menschen brauchen sich vor Krisen nicht zu fürchten. Es war ein Namensvetter des Reformators, der Marburger Theologe Henning Luther, der 1991 einen Aufsatz gegen die „Lügen der Tröster“ geschrieben hat. Er, der selber früh nach schwerer Krankheit verstarb, hat sich noch ein halbes Jahr vor seinem Tod gegen die Vertröstungen gewandt, die er in der Art, wie wir den Glauben verkündigen, so oft praktiziert sah. Gegen alles „Das wird schon wieder“ und „Alles wird gut“ und „Nimm es nicht so schwer“. Die Spitze seiner Aussage ist dies, dass er uns entlasten will von dem Ballast schöner Worte und Vertröstungen, von denen die Welt doch sowieso voll genug ist. Unser Glaube ist keine Beruhigung, sondern eine Beunruhigung, weil er uns daran erinnert, dass das Leben nicht ist, wie es sein sollte. Aber gerade darin ist er tröstlich, weil wir im Glauben stark genug sind, die Beunruhigung zu benennen und auszuhalten. Endlich fällt die Last des Lügens und Beschönigens weg, sagt er. Henning Luther verstand es gerade als Entlastung, damit leben zu können, dass nicht alles gut ist und dass das Leben Fragment bleiben wird, egal wie gut es uns auch gelingen mag. So verstehe ich diesen Satz: „Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Guten dienen.“ Das geht viel tiefer als eine bloße Beruhigung oder Beschönigung. Auch das Leben derer, die Gott lieben, bleibt zerbrechlich, bleibt ein Fragment. Aber der Geist Gottes in uns macht es möglich, uns mit unserer Zerbrechlichkeit zu versöhnen. Nicht aus Schwäche, sondern gerade aus Stärke, aus der Stärke, dass in uns ein Geist weht und wirkt, der für uns seufzt und tröstet und Kraft gibt. Bleibt die beunruhigende Aussage von der Erwählung. Damit hat die Kirche oftmals Angst verbreitet. Martin Luther hat gesagt: Mit diesen Gedanken sollen wir uns nicht quälen, sondern einfach fest vertrauen, dass Gott es gut mit uns meint. Solcher Glaube wird nicht ins Leere laufen. Der Geist schenkt uns die Kraft, uns einfach fallen zu lassen in dem Vertrauen, dass Gott uns auffängt. Niemand kann tiefer fallen als in Gottes Hände. „Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn“. Amen.