Jesaja 40, 1-11
Dr. H. Gorski
Liebe Gemeinde,
ich beginne mit einem Ausschnitt aus Arno Geigers Buch „Der alte König in seinem Exil“, in dem er die Erlebnisse mit seinem dementen Vater beschreibt:
„Lange Zeit weigerten wir uns zu akzeptieren, dass der Vater so etwas Selbstverständliches wie das eigene Haus vergessen hatte. Eines Tages wollte sich meine Schwester sein Bitten und Drängen nicht länger anhören. Alle fünf Minuten sagte er, dass er zu Hause erwartet werde, das war nicht zum Aushalten. Unserem damaligen Empfinden nach überstiegen seine endlosen Wiederholungen jedes erträgliche Maß.
Helga ging mit ihm hinaus auf die Straße und verkündete: ‚Das ist dein Haus!’ – ‚Nein, das ist nicht mein Haus’, erwiderte er. ‚Dann sag mir, wo du wohnst.’ Er nannte die korrekte Straße mit Hausnummer. Triumphierend zeigte Helga auf das Hausnummernschild neben der Eingangstür und fragte: ‚Und was steht hier?’ Er las ihr die zuvor genannte Adresse vor. Helga fragte: ‚Was schließen wir daraus?’ ‚Dass jemand das Schild gestohlen und hier angeschraubt hat’, erwiderte der Vater trocken – was eine etwas phantastisch anmutende Deutung war, die aber keineswegs jede Schlüssigkeit vermissen ließ.
Wer er sagte, dass er nach Hause gehe, richtete sich diese Absicht in Wahrheit nicht gegen den Ort, von er weg wollte, sondern gegen die Situation, in der er sich fremd und unglücklich fühlte. Gemeint war also nicht der Ort, sondern die Krankheit, und die Krankheit nahm er überallhin mit, auch in sein Elternhaus. ...
Erst Jahre später begriff ich, dass der Wunsch nach Hause zu gehen, etwas zutiefst Menschliches enthält. Spontan vollzog der Vater, was die Menschheit vollzogen hatte: Als Heilmittel gegen ein erschreckendes, nicht zu enträtselndes Leben hatte er einen Ort bezeichnet, an dem Geborgenheit möglich sein würde, wenn er ihn erreichte. Diesen Ort des Trostes nannte der Vater Zuhause, der Gläubige nennt ihn Himmelreich.“
„Tröstet, tröstet mein Volk!, spricht euer Gott. Redet mit Jerusalem freundlich und predigt ihr, dass ihre Knechtschaft ein Ende hat, dass ihre Schuld vergeben ist.“ In der einen Geschichte ein alter Mann, dement, den sein Sohn liebevoll „Der alte König in seinem Exil“ nennt; in der anderen Geschichte ein Volk im Exil – was sie verbindet: Beide suchen nach ihrem Zuhause, beide suchen nach Trost.
Der Prophet, der ab dem 40. Kapitel des Jesaja-Buches zu Wort kommt und dessen Namen und Person wir nicht kennen, schreibt im 6. Jahrhundert vor Christus, in Babylon. Er wendet sich an das Volk Israel, das dort seit mehreren Jahrzehnten im Exil lebt. Mit dem Erstarken des Perserreiches unter seinem König Kyros sieht der Prophet Hoffnung heraufziehen: Das babylonische Reich wird untergehen, der Perserkönig wird sie wieder in ihre Heimat Palästina ziehen lassen. Das gibt Trost.
Offenbar brauchen Menschen Trost. So unterschiedlich die Gründe sein können, warum ein Mensch sich nach Trost sehnt – vielleicht steckt dahinter so etwas wie eine „Wunde im Menschsein“, die geschlossen werden will. Mir kommt es so vor, als ob es unsere Sterblichkeit ist, die uns trostbedürftig macht. In der Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies wird diese Vertreibung damit verbunden, dass der ins raue Leben geschickte Mensch nunmehr sterblich ist. Das sind symbolische Geschichten und Bilder, die eine Wahrheit über uns Menschen aussprechen: Wir sind Vertriebene, die „Freigelassenen der Schöpfung“, wie es mal jemand ausgedrückt hat, aber mit dieser Entlassung in die Freiheit irgendwie auch in die Fremde geschickt und sterblich geworden. Und mir scheint, als ob hinter der Sehnsucht nach Trost – worauf immer sie sich im Leben gerade konkret richtet – letztlich so etwas wie die Sehnsucht nach Heilung dieser „Wunde im Menschsein“ steckt, wieder nach Hause zu kommen, an einen Ort, der wie das Paradies frei von Sterblichkeit und Schuld ist.
Der Prophet greift diese Themen in seiner Predigt auf. Alles Fleisch ist wie Gras, die Blumen verdorren. Israel ist in der Fremde. Aber es gibt Hoffnung auf ein Ende des Exils. Am Ort des Zuhauses wird Gott mitten unter den Menschen wohnen und sie trösten, wie ein Hirte seine Schafe tröstet oder Eltern ihre Kinder: Sie auf den Schoß nehmen, Geborgenheit geben, ein Zuhause körperlicher Nähe.
Solange wir Kinder waren oder sind, ist Trost einfach Trost. Ob wirklich alles wieder gut wird, wenn ein Kind um einen Menschen trauert oder erkrankt oder sich verletzt hat – das spielt in dem Augenblick keine Rolle. Die Welt wird noch unmittelbar empfunden, als ein Ganzes. Wenn Vater oder Mutter ein Kind auf den Schoß nehmen und sagen „Alles wird wieder gut“, dann ist in dem Augenblick alles gut, nämlich eine Geborgenheit da und ein Zuhause.
Mit dem Ende der Kindheit schwindet diese Unmittelbarkeit und Ganzheit des Trostes. Nun spaltet er sich auf in zwei Möglichkeiten: den Trost und die Vertröstung. Und da wird es schwierig. Was soll man dem Langzeitarbeitslosen sagen? Versuch es weiter, das wird schon? Hilft falscher Trost vielleicht, die Hoffnungslosigkeit zu überwinden, sich zu motivieren? Oder führt falscher Trost in Sackgassen? Wie viel Wahrheit darf am Krankenbett oder gar am Sterbebett gesagt werden? Ist Trost ohne Lügen erlaubt? Und ist Trost ohne Lügen – und seien es kleine Notlügen – überhaupt möglich?
Was in einzelnen Situationen richtig ist, dafür gibt es kein Patentrezept. Trost ist etwas ganz Persönliches und kann nur persönlich verantwortet werden. Wenn ich hier ein Plädoyer für das Trösten, ohne zu lügen, halte, dann habe ich nicht solche persönlichen Einzelschicksale vor Augen, sondern eine Welt, in der – wie mir scheint – viel zu viel beschönigt, gelogen und vertröstet wird.
Lessing lässt in seiner „Emilia Galotti“ sagen: „Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verliert, der hat keinen zu verlieren.“ Lessing erinnert an die Abgründe des Wahnsinns. Beispiele aus unserer Zeit wird jeder für sich selber finden. Mir steht vor Augen, dass täglich Menschen auf der Flucht an den Grenzen Europas sterben, Grenzen, die mit unseren Steuergeldern befestigt werden. Dass für große Teile unserer Kleidung Kinder oder Arbeiter ohne Sicherheitsstandards in China oder Bangladesch zu Hungerlöhnen arbeiten müssen. Sind die, die sich darüber nicht beruhigen und trösten lassen wollen, verrückt? Oder nicht vielmehr die anderen, die sich trösten lassen mit politischen Versprechungen und Beschönigungen?
Unser Glaube kein „Opium für das Volk“, kein Betäubungsmittel. Die Kirchen sind nicht zum Vertrösten und Beruhigen da. Der Glaube ist vielmehr dazu da, zu beunruhigen. Der Glaube hält die Fragen offen, die gestellt werden müssen. Der Glaube erinnert daran, dass die Welt nicht ist, wie Gott sie gemeint hat, nämlich dass alle Menschen auf ihr in Frieden leben können. Die Stärke unseres Glaubens ist gerade nicht seine Kraft zur Beruhigung, sondern zur Beunruhigung.
Paradoxerweise ist gerade das das Erlösende. Denn wie viel Kraft kostet all das Beschönigen von Zuständen, über denen man den Verstand verlieren kann? Wie viel Kraft kostet auch im einzelnen Leben das Vertuschen von Fehlern oder das Beschönigen von Missständen? Wie erlösend kann es sein, mit dem Beschönigen aufhören zu können, sich eingestehen zu können, dass das Leben Fragment ist und sein darf, nicht mehr und nicht weniger!
Gott liebt das Fragment, er liebt auch das nicht perfekte Leben. Die Stärke unseres Glaubens besteht darin, dass er uns die Kraft gibt, die Beunruhigung auszuhalten. Beunruhigt, und vielleicht manchmal mit dem Gefühl, den Verstand zu verlieren über dieser Welt, auf jeden Fall aber ohne etwas beschönigen zu müssen, loszugehen, zu reden, offen zu legen, aufzudecken, anzupacken und aufzustehen für eine Welt, in der alle Menschen in Frieden leben können.
Vielleicht rührt der Trost aus dem Glauben daher, dass er von einem echten Zuhause spricht. Das, wonach wir uns sehnen, ist ja da, wir gehen drauf zu, unser Leben lang. Und demente Menschen mögen uns nach unseren Maßstäben verwirrt vorkommen. Manchmal scheint mir, sie sehen in Wirklichkeit klarer, wie manchmal auch Sterbende. Als ob sie schon etwas von der anderen Welt sehen, in der nicht mehr unsere Maßstäbe gelten, sondern Gottes Maßstäbe. Vielleicht sehen sie schon etwas von dem Zuhause, nach dem unsere Seele sich sehnt, etwas vom Himmelreich. Das zu glauben, ist Trost. Amen.