Jesaja 40, 26-31 | Quasimodogeniti
Klaus-Georg Poehls
"… aber die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft,
dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler" (Jesaja 40, 31).
Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.
Liebe Gemeinde!
Sie haben sich eingerichtet in ihrer Müdigkeit, sie haben ihre Resignation schon richtig gepflegt, haben sie schon liturgisch in ihren Gottesdiensten verankert. Lebensmut ist schleichender Schwermut gewichen. Gottesdienstliche Nabelschau, das Gefühl, als Gemeinde umkreist zu sein von einer bösen Welt, gegen die nichts mehr zu machen ist, auf die nicht mehr gehört werden soll, die nicht mehr gesehen werden will. Denn es hört auch niemand, nicht einmal Gott, auf die Leidenden und niemand, nicht einmal Gott, sieht ihr Leid! Lethargie ist es, unter der sie leiden, aus der sie aber nicht herauskommen. Eine traurige Gemeinde ist es, die ihrem Gott nichts mehr zutraut und sich selbst nur noch zusagt, dass nichts mehr zu erwarten sei. Maßstab ihres Glaubens sind die eigenen leidvollen Erfahrungen. Ihrer Hoffnung, ihrer Liebe können sie nicht mehr Recht geben.
Leiden an der Welt und eigenes Leiden werden mit in die Gottesdienste hinein genommen, sie werden vor Gott gebracht, kommen von ihm zurück und gehen mit den Menschen wieder in den Alltag hinaus.
Bedeutungslosigkeit einer Gemeinde. Bedeutungslos die Gottesdienste, bedeutungslos die Rolle der Gemeinde in der Gesellschaft, bedeutungslos der Glaube für den Alltag, für das Leben, bedeutungslos Gott für die eigenen Kräften und Hoffnungen.
Und jetzt kommt einer mit ganz viel Verständnis und Liebe zu diesen Menschen. Vor zweieinhalbtausend Jahren war es der so genannte Deuterojesaja, und heute ist er es mir mit seinen Worten immer noch.
Geduldig und liebevoll spricht er; er erinnert die Gemeinde an die verschütteten eigenen Erfahrungen mit Gott und an das, was sie schon von Eltern und Großeltern gehört haben. Er weiß, was Nietzsche so beschrieb: "Auch der Mutigste von uns hat nur selten den Mut zu dem, was er eigentlich weiß". Jetzt aber sitzen Mutlose vor ihm; er muss sie erinnern, als wolle er sie erwecken aus einer Totenstarre, als wolle er sie neu das Sehen und Hören lehren, neu ins Leben führen: "Hebt eure Augen in die Höhe und seht! Wer hat dies geschaffen? Er führt ihr – der Sterne - Heer vollzählig heraus und ruft sie alle mit Namen; seine Macht und starke Kraft ist so groß, dass nicht eins von ihnen fehlt. Warum sprichst du denn, Jakob, und du, Israel, sagst: »Mein Weg ist dem HERRN verborgen, und mein Recht geht vor meinem Gott vorüber«?
Weißt du nicht? Hast du nicht gehört? Der HERR, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforschlich. Er gibt dem Müden Kraft, und Stärke genug dem Unvermögenden. Männer werden müde und matt, und Jünglinge straucheln und fallen; aber die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden."
"Du, Jakob, du, Israel – du bist von Gott gemeint als einzigartiger unverwechselbarer Mensch und als Gemeinde Gottes; Dir gelten alle Verheißungen, denn Gott ist da, hier und jetzt, immer und ewig. Seine Fürsorge, sein Dasein gilt Dir in Deiner Müdigkeit und Schwäche, gilt Dir für Deinen Lebensweg vom ersten Atemzug an – und auch Dir, kleine Lotte und auch jedem hier. Weißt Du das nicht? Hast Du das nicht gehört? Die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden."
Liebe Gemeinde, einen Adler habe ich Ihnen auf dem Gottesdienstzettel abgebildet, gerade wie er die Erdenschwere unter sich lässt und in den Himmel steigt. Ich weiß nicht, was sich für Sie mit einem solchen Bild verbindet. Adler sind kaum noch zu sehen, was über Blankenese so aufsteigt, hat für mich nicht annähernd eine solche Bedeutung. Die wenigen Male, da ich Adler sah, haben sich mir alle eingeprägt: zwei Seeadler über dem Plöner See an hellblauem Himmel, ein Schwarzer Adler, der abhob vom Ast eines Baumes und in ein Tal herabflog im Krügerpark – und immer ein Stauen, eine Freude, ein Glücksgefühl. Denn da sind Größe und Schwerelosigkeit, Freiheit und Souveränität und eine schlichte Schönheit. Nenne Sie mich Naturromantiker, geben Sie meinen Worten einen erhöhten Kitschfaktor – so ist es für mich. Und so war es wohl auch für die Schriftsteller der Bibel und mancher Lieddichter – zweimal singen wir heute noch vom Adler. Denn er ist ein Bild für Gottes Geist und sein Wirken.
Und nun kommt Lottes Taufspruch ins Spiel. "Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und er Besonnenheit." Das ist die Zusammenfassung der Botschaft des Deuterojesaja. Und er stellt uns die Frage, welcher Geist denn herrscht unter uns, grade im Angesicht all der "Losigkeiten": Kraftlosigkeit, Bedeutungslosigkeit, Mutlosigkeit, Hoffnungslosigkeit. Der Geist der Resignation und der Furcht, der Geist der Unverbindlichkeit?
Ein Geist droht um sich zu greifen, der nichts wissen will von der Achtung vor dem Leben – siehe Kusch und seine Suizidmaschine, der keinen Respekt hat vor der Tiefe der Religion – siehe den belgischen Rechtspopulisten … und sein Machwerk über den Islam. Er droht um sich zu greifen bei denen, die ihre Feinde schädigen und demütigen wollen, wie bei denen, die sich verteidigen wollen. Wenn Muslime, Ausländer und Juden in unserem Lande schon von anderen bedroht werden und Angst haben, dann verzeichnet dieser Ungeist seine Siege. All das ist zum Fürchten und macht müde, lässt resignieren.
"Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit."
Gott hat uns nicht den Geist der Furcht gegeben.
Das kann nicht heißen, Furcht und Angst wären verboten, oder es gäbe sie gar nicht, die Furcht, die Angst, die Verzweiflung. Wir haben sie ja erfahren – im Großen und auch im Kleinen.
Furcht lähmt und macht blind. Und Gott will nicht, dass Menschen aus Furcht nichts tun oder aus Furcht unüberlegt handeln, und dann einfach aus Angst blind um sich schlagen. Gott will den Menschen Mut machen, die Furcht soll nicht das letzte Wort haben.
Lottes Taufspruch sagt das so: auf der einen Seite ist die Furcht, sie ist ganz konkret da und auf der anderen Seite, auf Gottes Seite, stehen Kraft, Liebe und Besonnenheit. Das sind die Mittel, die wir haben, das ist es, was Gott uns mitgegeben hat und mitgeben will durch sein Wort und durch seinen Geist.
Was sich da im Geist Gottes verbindet, will helfen ein Leben zu führen, das im Sinne Gottes und zum Wohl der Menschen ist – aller Menschen, auch der anderen Glaubens, auch der anderer Kultur.
Kraft - Liebe - Besonnenheit als die drei Säulen für ein gelungenes Leben. Vielleicht in dieser Verbindung, weil Kraft ohne Liebe nur auf sich selbst vertraut, zur Kraftmeierei wird. Wer die Muskeln spielen lässt, erreicht niemals das Herz seines Gegenübers. Wer auf Kraft und Stärke setzt, der dreht an der Spirale der Gewalt. Es gibt keinen Anlass, auf Kraft ohne Liebe zu vertrauen.
Liebe ohne Besonnenheit kann sich verrennen, kann zu Abhängigkeit oder Fanatismus werden, während Besonnenheit ohne Liebe nicht mehr als Apathie, als achselzuckendes Hinnehmen von dem, was eben geschieht, wäre.
Die drei gehören zusammen, und geben Menschen die Kraft, sich einzusetzen für den Frieden und für das Leben; sie geben Menschen die Liebe, die trotz allen Unverständnisses im Menschen immer einmalige Geschöpf Gottes sieht und sie lassen Menschen innehalten und besonnen fragen, was nun im Sinne Gottes und für das Wohl der Menschen zu tun ist.
"Weißt Du das nicht? Hast Du das nicht gehört? Die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden."
Amen.