Johannes 15, 9-12
Klaus-Georg Poehls
Gnade sei mit Euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.
"Dauernd wird von Liebe geredet." So, liebe Gemeinde, die Antwort eines Konfirmanden auf meine Frage, wie es im Gottesdienst war. Sie ist hängen geblieben in meinem Gedächtnis, auch wenn sie schon vor gut zwei Jahren geäußert wurde: "Dauernd wird von Liebe geredet."
Kann es sein, frage ich mich, dass Du zwar im Alltag das Wort von der Liebe meidest, weil Du es schon so ausgehöhlt und verkitscht empfindest und zu seinem inflationären Gebrauch nicht beitragen willst, es dann aber im Gottesdienst geradezu inflationär gebrauchst? Bist Du gleichermaßen schon eine männliche Celine Dion auf der Kanzel oder, für die ältere Generation, ein Roy Black im Talar – beide Schnulzensänger und Vertreter eines rosaroten Liebeskitsches?
Und muss nicht immer noch und ungleich mehr die Mahnung des 1. Johannesbriefes Vorrang haben, dass wir nicht mit Worten, sondern mit der Tat und mit der Wahrheit lieben sollen?
In diese Fragereien kommt die Erinnerung an eine Autofahrt hinein, in der meine Frau betont süßlich zu unseren Kindern sagte: "Aber Kinder, Ihr sollt Euch doch lieb haben!". Und unsere Tochter sagte nur zu ihrem Bruder: "Ich hau Dich gleich!".
Wie können wir über Liebe reden und zur Liebe auffordern? Denn außer Frage steht: wir müssen es tun, denn Jesus tat es.
Wenn ich mit meinen Konfirmanden die Zehn Gebote durchnehme, dann lasse ich die Gespräche einmünden in die Frage des Schriftgelehrten an Jesus: "Welches ist das höchste Gebot von allen?". Und Jesus antwortet, ganz seiner jüdischen Glaubenstradition verhaftet: "Das höchste Gebot ist das: »Höre Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften«. Das andere ist dies: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst«. Es ist kein anderes Gebot größer als dieses." (Mk 12, 29-31).
Kleiner dürfen wir also nicht von der Liebe, die Jesus meint, denken, als dass sie das Größte sei, was einen Menschen mit Gott und mit seinen Mitmenschen verbinden soll.
Und deutlich wird auch: es geht hier nicht um jene Liebe, die mich überkommt oder die mir geschenkt ist, die mich erfüllt und die mich den Namen meiner Frau oder meines Mannes, meiner Kinder, meiner Freundin oder meines Freundes mit dem Gefühl von tiefer Liebe aussprechen lässt. Diese Liebe ist wie ein Spiegelbild der großen Liebe Gottes, die diese Welt durchwirkt. Sollte ich diese Liebe aus eigener Kraft Gott und meinem Nächsten entgegenbringen, dann wäre ich hoffnungslos überfordert.
Nein, Jesus spricht von einer Liebe, die im Willen und Vermögen eines Menschen steht, sonst würde er sie nicht als Gebot formulieren. Es geht mit ihr nicht um ein Gefühl, sondern um eine Haltung, um ein Liebesethos. Und wenn das stimmt, dann lässt sich diese Gottes- und Nächstenliebe zunächst definieren als alles, was nicht lieblos ist Gott und meinem Nächsten gegenüber. "Sei nicht lieblos gegenüber deinem Gott, stell ihn nicht in die Ecke deines Lebens, missbrauche seinen Namen nicht für deinen Schrecken, deinen Ekel, deine Langeweile, dein Angewidertsein und erst recht nicht für deine Politik und deine Gewaltbereitschaft.
Sei nicht lieblos deinem Nächsten gegenüber, sieh nicht über ihn hinweg, durch ihn durch, lass ihn nicht stehen, mach ihn nicht zum Objekt deiner Lüste und Interessen. Beide Listen ließen sich fortführen.
Es geht beim Liebesgebot um eine Bündelung meiner Kräfte, meiner Gefühle, meines Wollens und Wissens auf einen liebevolle Haltung meinem Gott und meinem Nächsten gegenüber. Und dies in zweierlei Richtung: nach innen und nach außen. Nach außen kennen wir das Liebesgebot als Gebot der Nächsten- und auch Feindesliebe, kennen es als diakonischen Einsatz und als eine im besten Sinne verstandene Mission: als Zeugnis von der Liebe Gottes, wie ich sie sehe und erlebe.
Nach innen gekehrt wird das Liebesgebot zum Gebot der Geschwisterlichkeit und Gemeinde wird zu ihrem Lernort und zu ihrer Heimat.
Und gerade das Johannesevangelium betont immer wieder diese Ausrichtung des Liebesgebotes. So heißt es im 15. Kapitel:
"Jesus sprach zu den Seinen: Wie mich mein Vater liebt, so liebe ich euch auch. Bleibt in meiner Liebe! Wenn ihr meine Gebote haltet, so bleibt ihr in meiner Liebe, wie ich meines Vaters Gebote halte und bleibe in seiner Liebe.
Das sage ich euch, damit meine Freude in euch bleibe und eure Freude vollkommen werde. Das ist mein Gebot, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch liebe."
Ein Liebesreigen wird beschrieben und er hat mit Freude zu tun. Es ist die Freude, lieben zu können und geliebt zu werden. Der Liebesreigen wird in Gang gesetzt durch Gott selbst. "Und nun spricht der Herr, der dich geschaffen hat…: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! …weil du in meinen Augen so wertgeachtet und auch herrlich bist und weil ich dich lieb habe." (Jes 43, 1.4).
So wie einst Jesaja, so wird auch Jesus ganz für sich und ein Gotteswort gehört haben, das ihm alle Furcht nahm und ihn spüren und verstehen ließ "Ich bin ein geliebtes Kind Gottes". Und mit diesem Glauben habe ich ihn vor Augen, wenn ich lese, wie er betete zu seinem Vater, wie er umging mit den Menschen, wie er ihnen die Hand reichte, sie aufrichtete und wieder gehen ließ, wie er die Kinder zu sich rief und sie in den Arm nahm, mit den Ausgegrenzten an einem Tisch saß, mit seinen Jüngern Abendmahl hielt – ich spüre seine Liebe zu den Menschen, seine Freundlichkeit, spüre auch, wie sehr ich die Freundlichkeit und die Freundschaft dieses Mannes brauche. Selbst am Kreuz noch eröffnet er den Menschen neben ihm und unter ihm Zukunft und neue Hoffnung- und wird selbst Zukunft und Hoffnung.
Durch dieses Prä der Liebe Gottes wird die Bibel zu einer Liebeserklärung Gottes an seine ganze Schöpfung, und durch diesen Jesus von Nazareth, wie er sich als Sohn Gottes verstand, vermittelt sich Gott. Und in seinem Geist wird spürbar, dass Gott nichts anderes mit uns vorhat, als sich in Jesus selbst und in seinem Umgang mit den Menschen zeigte."Das ist mein Gebot, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch liebe."
Nun ist man dann schnell geneigt, bevor man zustimmen möchte, auf die Realität zu gucken. Der Blick auf sie ist oft genauso schnell wie eine Ausrede, denn oftmals ist er selbst eine. Und dann heißt es eben: "Wie soll das wohl gehen, das ist doch reines Wunschdenken. Guck dich doch mal um in unserer Gesellschaft, hör dich doch mal um, was so gesagt und wie geredet wird in den Räumen deiner eigenen Gemeinde".
Und in der Tat: der Blick auf die Realität muss sein als Korrektur für unsere Verhalten, aber nicht als Korrektur für unseren Glauben. Denn der liegt noch vor aller Realität, weil er die Welt ja ändern will. Machen wir es andersherum und geben der Realität Recht und lassen sie unseren Glauben ändern, dann können wir uns selbst und diese Welt aufgeben.
Deshalb: "Bleibt in meiner Liebe!" Das ist nicht die Auforderung an die Jünger, an uns, Jesus weiter zu lieben oder im Sinne Jesu weiter zu lieben, sondern es ist die Zusage Jesu, dass seine Liebe in dieser Welt bleibt. Er sagt: "Meine Liebe soll eure Bleibe sein, Euer Zuhause!" Die Jünger Jesu, die damals und wir heute, werden weiterhin geliebt und haben Zuflucht und Heimat in der Liebe – und dann müssen sie auch Zuflucht und Heimat haben in einer Gemeinde.
Und wir werden weiterhin aufgefordert, untereinander Liebe zu halten: "Das ist mein Gebot, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch liebe." Dieses Gebot zeigt deutlich, dass es nicht nur nach außen hin die Lieblosigkeit einer Gemeinde geben kann, sondern auch nach innen hin.
Wir dürfen annehmen, und dürfen es auch auf uns beziehen, dass Johannes mit dieser Aufforderung, die er Jesus in den Mund legte, einer gewissen Larmoyanz, einer resignativen Haltung in seinen Gemeinden entgegen treten wollte. Denn es ist lieblos, dass Menschen einander verloren geben, nicht mehr an die Sache Gottes glauben. Wer sich zum Genossen des eigenen Elends macht oder zum Genossen des Elends der Welt, handelt zutiefst lieblos und verjagt die Freude.
Resignation ist Sünde, weinerliches Klagen über den Zustand der Welt und gleichzeitiges Hinnehmen dieses Zustandes als unabänderlich ist Sünde. Denn es gibt Mensch und Welt verloren und traut der von Gott geforderten und mit ihm in dieser Welt anwesenden Liebe nichts zu. Das ist lieblos und treibt die Freude aus.
Freunde Jesu, wie die Jünger im Umfeld des Predigttextes genannt werden, aber freuen sich über die Freiheit von dieser Sünde, freuen sich, dass sie in der Liebe Gottes die Kraft und den Mut haben, gegen alle Resignation und Lieblosigkeit anzugehen. "Das sage ich euch, damit meine Freude in euch bleibe und eure Freude vollkommen werde."
Ein ganz praktischer und dreifacher Weg, aus dieser Lieblosigkeit herauszukommen, ist für mich zuerst das Gebet. Ist Ihnen und Euch schon einmal aufgefallen, dass es sich ganz neu auf einen Menschen und eine Gruppe von Menschen blicken lässt nach einem Vaterunser? Beten schenkt einen liebevollen Blick.
Und dann ist da das Lesen in der Bibel, die Begegnung mit Jesus, die Begegnung mit seinem Gott in den Geschichten der Bibel: sie stellen mich in meiner Lieblosigkeit in Frage und geben neue Kraft und neuen Mut – zur Liebe.
Und zum guten Schluss ist da die Gemeinde, sind Sie da und seid Ihr da. Das Leben mit Ihnen und Euch, unser kleines gemeinsames Leben, lässt Freude aneinander aufkommen, zeigt meinen Hang zur Lieblosigkeit und ist beglückend in der Herzlichkeit, dem Humor, der Freude und dem Engagement, die hier anzutreffen sind. Hier, vor allem im Gottesdienst, ist eine Nähe und Herzlichkeit zueinander möglich, die kaum jemand im Alltag zulassen wird – wenn wir den Friedensgruß zelebrieren, Abendmahl feiern, miteinander singen.
Hier ist, bis wir dem Nächsten die Hand reichen, das andere Ende des Liebesreigens, den Gott angefangen hat. Hier lerne ich mit Meister Eckardt: "Die wichtigste Zeit ist die Gegenwart und der bedeutendste Mensch ist der, der dir gerade gegenübersteht und das wichtigste Werk ist die Liebe."
Amen.