Johannes 6, 1-15 und Epheser 2,19

18.07.2010 | 17:43

Dr. H. Gorski

Liebe Gemeinde,
irgendwie scheint es zum Menschen dazu zu gehören, dass er Angst hat, benachteiligt zu werden und nicht genug zu bekommen. Die älteste Geschichte dieser Art ist uns von Kain und Abel überliefert, wo die Angst, von Gott benachteiligt zu werden, zum Brudermord führt. Von da an zieht sich eine Spur von Streit, Hass, Gewalt und nicht selten sogar Blut durch die Menschheitsgeschichte.

Nun könnte es noch leicht erklärbar sein, wenn es um das echte Überleben geht. Wo Nahrung und Wasser knapp sind und Menschen buchstäblich zu verhungern oder zu verdursten drohen: Dass da ein Kampf losbricht, das wäre noch verständlich. Der Blick auf den Alltag zeigt aber, dass es offenbar in der menschlichen Seele noch um etwas anderes geht. Denn Verteilungskämpfe brechen unter Ge-schwistern auch um ein Stück Schokolade oder um den besten Platz im Auto los. Wer Menschen be-obachtet, die in Westerland in einen überfüllten Zug drängen oder in der Schlange im Supermarkt vordrängen, der lernt schnell: Da geht es nicht ums Überleben; oder um ein Überlegen anderer Art. Da geht es irgendwie um ein tief sitzendes Gefühl, auf keinen Fall einen Nachteil oder eine Unbe-quemlichkeit erleiden zu dürfen. Allein diese Aussicht mobilisiert ungeheure Kräfte, und keine freundli-chen. Dabei scheint meine persönliche Erfahrung von Reisen in andere Länder zu zeigen, dass die Menschen gerade dort, wie sie weniger haben und vielleicht mehr Grund hätten, sich benachteiligt zu fühlen, mit solchen Situationen oftmals bescheidener und disziplinierter umgehen als wir. Aber gerade da, wo jeder eigentlich recht gelassen sein könnte, weil sein Überleben und auch seine Grundbe-quemlichkeit kaum in Frage steht, gerade da können Menschen recht unangenehm werden, wenn sie meinen, nicht genug abzubekommen.

Wenn man in der Religion oder in der Tiefenpsychologie nach Antworten auf dieses Phänomen sucht, dann stößt man auf Aussagen über eine tiefe Verletzung in der menschlichen Seele, die nach Heilung sucht. Fast unabhängig vom individuellen Lebensweg scheint es in der menschlichen Seele so eine Art Grundverletzung zu geben, nicht genug gesehen zu werden, nicht genug Nahrung für die Seele und den Leib zu bekommen. Und diese Grundverletzung scheint durch noch so viele Güter nicht zu heilen zu sein. Im Gegenteil, je mehr ein Mensch tatsächlich hat, desto mehr – so scheint es zumin-dest manchmal – brennt seine Seele danach, gesättigt zu werden. Zur Heilung dieser Grundverlet-zung braucht es offenbar etwas anderes, ein wirkliches Verheilen von innen heraus. Aus meinem Glauben heraus würde ich sagen: Vielleicht kann nur Gott selber diese menschliche Verletzung hei-len, indem er uns annimmt und von tief innen das Gefühl gibt, nicht benachteiligt zu sein und von ihm das zum Leben Notwendige zu bekommen.

So gesehen ist die Geschichte von der Speisung der 5.000 Männer (und sicher auch Frauen und Kin-der) eine Geschichte genau dieser Heilung. Man sucht ihren Sinn wohl an der falschen Stelle, wenn man fragt, wie diese wundersame Vermehrung geschehen konnte. Das eigentliche Wunder ist, dass alle von Gott das bekommen, was sie brauchen. Und dass Gott damit eine große Menschenansamm-lung – vielleicht symbolisch für die Menschheit insgesamt – befriedet.

 

Ich wage kaum mir vorzustellen – das heißt, ich tue es doch, weil gerade das interessant
ist –, was in der Menschenmenge vor sich gegangen sein mag, als sie immer hungriger und durstiger wurden. Sie scheinen Jesus recht blind nachgelaufen zu sein, haben nicht bemerkt, wie sie dabei in eine öde Gegend gerieten, kein Baum und kein Strauch dort, und plötzlich merken sie, wie sie hungrig und durstig werden, aber nichts ist da. In einem heißen Land wie Israel ist das schnell gefährlich, da-gegen sind unsere ICEs harmlos. Und was für ein Gedrängel und Gerangel muss losgegangen sein, als man anfing, einige wenige Brote und Fische und dazu sicher einige Schluck Wasser zu verteilen. In der Menschenmenge möchte ich nicht gestanden haben. Nicht nur wegen der anderen, auch weil ich meine eigenen Gefühle in solchen Situationen kenne.

Man könnte diese Geschichte nicht nur „Die Speisung der 5.000“ nennen, man könnte sie auch über-schreiben „Die Befriedung der Menschheit“. Jesus schafft es mit Gottes Hilfe, eine brenzlige Situation zu entschärfen, indem er ihrer Angst das Vertrauen entgegensetzt, genug zu bekommen. Diese „Ver-teilungsgerechtigkeit“ – so könnte man mit einem modernen politischen Wort sagen – hat eine innere und eine äußere Seite, die man nicht gegeneinander ausspielen sollte. Es geht einmal um die Heilung unserer verletzten Seele. Kein Mensch mit seiner Liebe und keine Gesellschaft mit ihrem Überfluss kann sie letztlich heilen. Nur Gott kann uns das Gefühl geben, geliebt, angenommen, gesehen zu sein und genug zum Leben zu bekommen. Und es geht um die Verteilung der äußeren Dinge. Da kann man wohl nur sagen: Gott hat die Welt so geschaffen, dass genug für alle da ist. Uns hat er den Auf-trag ins Leben mitgegeben, dafür zu sorgen, dass seine Güter gerecht verteilt werden. An dem Auf-trag arbeiten wir noch.

Wenn wir 68 Jahre zurückdenken, dann befinden wir uns in einer Zeit, in der mit genau dieser seeli-schen Grundverletzung, die ich beschrieben habe, erbarmungslose Stimmungsmache und Politik be-trieben wurden. Neben vielen anderen Wurzeln des Antisemitismus, die damals zur Verfolgung der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger führten, wurde immer wieder dieses Muster bedient: Die Ju-den nehmen den Deutschen etwas weg. Geld, Arbeit, wissenschaftliche Erkenntnisse, Kultur und Raum zum Leben. Das „Volk ohne Raum“, wie demagogisch gesagt wurde, suchte neuen Lebens-raum im Osten und merzte alles aus, was ihm im Inneren des Landes etwas wegzunehmen schien. Zu denen, für die daraus unendliches Leid und in den meisten Fällen der Tod erwuchs, gehörten die Menschen im „Judenhaus“ Steubenweg 36 (heute Grotiusweg 36). Ihre Deportation begann am 19. Juli 1942, morgen vor 68 Jahren. Grund genug, dass wir uns erinnern und mahnen.

Zur Mahnung für die Gegenwart und alle Zukunft gehört auch, die Mechanismen des Handelns zu erkennen und ihnen zu wehren. Denn das üble Spiel mit dieser menschlichen Grundverletzung wird auch heute gespielt. Parolen wie „Das Boot ist voll“ und Behauptungen wie die, die Ausländer nähmen uns unsere Arbeitsplätze weg, bedienen genau jenen Mechanismus, der vom Brudermord Kains an Abel bis zur Judenvernichtung und heute gelegentlich wieder zum Judenhass, aber auch zum Auslän-derhass und zur Abwehr von Flüchtlingen führt.

Als Christen haben wir dem eine Botschaft entgegenzusetzen: Die Botschaft von der Speisung und Befriedung der Menschheit. Gott macht keine Unterschiede in seiner Liebe. Und seine Verteilungsge-rechtigkeit kennt keine Grenzen. Wir verkündigen, dass Gott alle Menschen ohne Unterschied an-nimmt, liebt, ihr Leid und ihre Freude ansieht. Jeder Mensch kann aus dem tiefen Glücksgefühl heraus leben, gesehen zu werden. Liebevoll angesehen zu werden. Und wir haben nicht nachzulassen darin, diese Botschaft in eine tatsächliche Befriedung der Welt umzusetzen, eine Welt, in der alle Menschen in Frieden und Gerechtigkeit leben können und genug zum Leben haben. Was daran inzwischen nach Phrase klingt, weil es so oft gesagt wird, ist doch deswegen nicht falsch. Das ist die Botschaft und das ist unser Auftrag, egal wie unvollkommen wir darin sind und wohl auch bleiben.

Man kann sich diese Welt auch gut als ein Haus vorstellen. Und in einem Haus wird gegessen. Erst gemeinsame Mahlzeiten machen ein Haus richtig zu einem Haus. In diesem Haus, so schreibt Paulus (im Wochenspruch), sind wir nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen. Er schreibt das den Christen, die nicht Juden, sondern aus den anderen Völkern dazu gekommen sind. Er schreibt das also uns. Die Juden waren vor uns in diesem Haus und saßen am Tisch und aßen. Wir sind diejenigen, die dazu kommen durften und nun auch Hausrecht bekamen. Was aber haben wir daraus gemacht?! Wir Christen haben dieses Hausrecht schon bald umgedreht, uns zu den eigentlichen Herren gemacht und die Juden daraus vertrieben. Christlicher Antisemitismus ist, recht besehen, eine Perversion des Evangeliums. Denn das Evangelium sagt deutlich genug, wer das ältere Recht am Tisch des Herrn im Hause Gottes hat.

So überlagert sich das Bild von der Speisung der 5.000 mit diesem anderen: Dass wir Christen das Volk, dem Jesus selbst angehörte und das er da um sich versammelte und sättigte, von seinem Tisch zu vertreiben versucht haben. Das ist eine selbst geschlagene Wunde in der Menschheit, an deren Heilung wir immer noch arbeiten.

Stärker aber als alle unsere unvollkommenen Versuche ist Gottes Heilung selbst. Wir Menschen kön-nen uns um ihn sammeln und unsere Kraft und unser Glück daraus schöpfen, dass er uns sieht und nährt. Nur seine Liebe kann unsere Verletzung heilen. Und vielleicht ist das unsere einzige Chance, menschlich zu werden. Amen.

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