Klagelieder 3, 22-26.31.-33 | 16. Sonntag nach Trinitatis

09.10.2011 | 02:00

Propst Dr. Horst Gorski

Liebe Gemeinde,

ich sehe vor mir den ganzen Erdkreis mit seinem Horizont und mitten drin den Menschen. Den Menschen mit seinem ganzen Auf und Ab, dem Hoffen und Klagen, Lieben und Fürchten, Kämpfen und Schwachsein. So mögen sich die Menschen empfunden haben, die 587 nach dem Fall Jerusalems aus Israel nach Babylon deportiert wurden und dort an den Ufern des Euphrat saßen und weinten. Sie schauten sich um in der Weite der Erde und fragten sich: Wer bin ich? Wer ist Gott? Was trägt mein Leben und Hoffen?

Diese Bilder, die der Text in mir auslöst, gehen in mir eine eigenartige Verbindung ein mit Bildern, die vor zwei Wochen hier in der Kirche zu sehen waren. Ich möchte Sie an dem Dialog, der dadurch in mir entstanden ist, teilnehmen lassen.

Das „Wasserkonzert“. In diesem Konzert wurden verschiedene Stücke aufgeführt, die mit dem Thema „Wasser“ zu tun hatten. Von der „Moldau“ über Chopins „Regentropfenprelude“ bis zu Schuberts „Forelle“; dazu zeitgenössische Improvisationen und die Rezitation von Texten. Das Besondere aber war, dass der Künstler Alexander Lauterwasser eine Vorrichtung gebaut hat, in der er mit Lautsprechern den Klang in ein Gefäß mit Wasser überträgt und nun die vom Klang ausgelösten Bewegungen des Wassers mit mehreren Kameras bei geschickter Beleuchtung aufnimmt. Das Bild der Wasseroberfläche wurde während der Musik auf eine Leinwand projiziert, so dass man hören und gleichzeitig sehen konnte, welche Muster und Strukturen die Schallwellen im Wasser bewirken. Nichts anderes geschieht in unseren Ohren, wo das Wasser in der Innenohrschnecke genau solche Muster bildet, die wiederum von Nervenzellen in „Gehör“ umgewandelt werden. Hier wurden sie sichtbar gemacht. Einige dieser Muster habe ich Ihnen vervielfältigt.

Das Erstaunliche dabei ist, dass sich alle diese Muster und Strukturen in der belebten Natur wiederfinden. In der Form von Blüten, im Panzer von Tieren, in der Struktur von Ästen und Zweigen. Es ist, als ob sie ein inneres Gesetz unserer Welt bilden, das überall wirkt und wiederkehrt.

In seinem Einführungsvortrag erinnerte der Künstler an den Satz des Physikers Werner Heisenberg „Materie besteht nicht aus Materie“: Diese – inzwischen keineswegs mehr neue – Erkenntnis, dass alle Materie aus Energie besteht, die lediglich dadurch, dass sie eine bestimmte Wellenstruktur annimmt, als feste Körper erscheint. Auch wir sind demnach also nichts als Energie, pure Energiebündel sozusagen (das mag uns manchen Morgen trösten!), die zu einer bestimmten Struktur geformt ist. Und die Strukturen, die durch den Klang im Wasser gebildet werden, könnten ein Spiegel dieser Grundstruktur aller Materie sein. Wenn wir diese Struktur verstehen würden, verstünden wir vielleicht, was „die Welt im Innersten zusammenhält“. Vielleicht zeigen uns diese Strukturen auf geheimnisvolle Weise genau das, was die Welt im Innersten zusammenhält.

Spinnt man diesen Gedanken fort, könnte man sich vorstellen, dass in dem Augenblick, in dem man dieses innerste Gesetz abschalten würde - so wie man einen Elektromagneten abschaltet und dann die Eisensplitter drum herum ihre Form verlieren – im ganzen Weltall nichts mehr wäre, nichts außer Energie.

Vielleicht sollte ich mich an dieser Stelle entschuldigen und absichern: Sollten Physiker unter Ihnen sein, die meinen Vortrag nicht sehr wissenschaftlich finden; oder sollten Sie Anstoß daran nehmen, dass das erst mal nicht sehr nach christlicher Theologie klingt – sehen Sie’s mir nach. Ich beanspruche nicht, dass das alles richtig so ist, was ich sage. Sondern ich versuche zu verstehen; versuche, mich zu orientieren in dieser Welt zwischen Glauben und Wissen. Sie kennen Kants berühmten Satz: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ So ähnlich geht es mir auch. So viel uns die Wissenschaft gelehrt hat und so viel uns die Bibel und der Glaube sagen – am Ende steht immer noch ein großes Staunen, und steht, so empfinde ich es, Ehrfurcht; Ehrfurcht vor unserem Schöpfer, Ehrfurcht vor den Wundern und Rätseln, die – je tiefer man in sie eindringt – nur immer wunderbarer und geheimnisvoller werden.

Ich wechsele nun wieder die Perspektive und setze mich neben den Verfasser der Klagelieder. „Die Güte des Herrn ist’s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und seine Treue ist groß. Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des Herrn hoffen. Der Herr verstößt nicht ewig; sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte. Denn nicht von Herzen plagt und betrübt er die Menschen.“

Da ringt einer mit sich und mit Gott und wie das Leben zu verstehen ist. Mitten in der Gefangenschaft, in der Fremde, als alles zerbrochen ist, vom Leben nicht viel mehr übrig geblieben ist als eben das „nackte Leben“, und bei denen, die an den Strapazen umgekommen sind, nicht mal das. Und dann doch nicht die Hoffnung aufgeben! Er könnte auch sagen: ‚Ich will nicht mehr und ich glaub’ nicht mehr an dich und setz’ nicht mehr auf deine Hilfe.’ Verständlich wär’ das allemal und man kennt ja bei sich selbst solche Gedanken, wenigstens vorübergehend. Aber der Glaube dieses Menschen geht tiefer und trägt selbst dann noch. Es bleibt ein: ‚Irgendwie wird deine Treue doch am Ende größer sein als all dieses Elend, das ich nicht verstehe.’

Am meisten rührt mich der Satz „Denn nicht von Herzen plagt und betrübt Gott die Menschen.“ Aus dem Munde dieses Menschen in Babylon ist das der rührende Versuch, Gott zu entschuldigen. Er meint es nicht so..., könnte man übersetzen. Eine heikle Entschuldigung, finde ich. Nur zum Spaß lässt Gott uns doch hoffentlich nicht leiden. Ich hoffe doch, dass er meint, was er tut.

Ich nehme diesen Gedanken nun wieder mit in die Perspektive der Strukturen von Energie, aus denen die Welt besteht. Es ist ja ein Wunder, dass etwas so Unpersönliches wie Energie, zu Personen werden kann, die ein Herz haben. Aber – wenn man sich auf diese Vorstellung von der Welt mal versuchshalber einlässt – dann scheint es ja so zu sein: Wir sind nichts als Energie, die in bestimmten Wellenstrukturen zu fester Materie geworden ist. Und trotzdem sind wir ein „Du“ geworden, eine Person, mit Verstand, Geist, Herz, Seele und Gewissen. Vielleicht liegt es gar nicht so fern, dies auf die Vorstellung von Gott zu übertragen: Wenn Gott Geist ist – was ja auch die Bibel an einigen Stellen sagt -, dann ist Gott ja vielleicht diese Energie, die in und hinter allem waltet und alles in allem ist., die große Stille. Damit muss man aber offenbar das Bild von einem persönlichen Gott, der ein Gegenüber, ein „Du“ ist, keineswegs aufgeben. So wie wir als Teile dieser Energie ein „Ich“ und ein „Du“ sind, so ist Gott als diese Energie, deren Teil wir alle sind, vielleicht das „große Du“. Martin Buber hat Gott so ähnlich genannt.

Wohin führt dieser Gedanke? Mich führt er zu der Vorstellung einer großen Geborgenheit. Vielleicht geschieht im Tode nichts anderes, als dass die Energie, aus der wir bestehen, ihre feste Form verliert und wir sozusagen wieder in Gott eingehen, einfach Teil dieser großen Energie werden, die er ist. Der Satz, dass wir nicht tiefer fallen können, als in Gottes Hände, wäre dann auf sehr konkrete Weise wahr. Mehr kann uns nicht passieren, als wieder ein Teil Gottes, seines Geistes, selbst zu werden.

Vielleicht ist es diese Ahnung, die dem Glauben Kraft gibt, auf diesem Erdenweg all das zu bestehen und zu verarbeiten, was uns im Glück und Unglück geschieht. Mit Paulus zu jubeln „O welch eine tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes“. Das tiefe Glück von Liebe und gefüllter Seele zu empfinden. Und mit Jesus über die Menschen zu verzweifeln „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“, oder sogar sein „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ nachzusprechen.

Der Glaube leugnet nicht Glück und Unglück. Er beschönigt nichts und macht nichts schlecht. Er gibt uns die Kraft, Glück und Unglück zu leben und zu bestehen. Er gibt uns nicht nur die Kraft – in dem Bild der Energie hieße es sogar: Wir sind Teil dieser Kraft, die stärker als alles ist. Pure Kraft. Jeden Morgen und jeden Abend und dazwischen auch. Amen.

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