Lukas 10, 25-37

06.09.2009 | 22:59

Dr. H. Gorski

Liebe Gemeinde,

ich sehe eine Spirale vor mir. Im Mittelpunkt der Spirale steht der Anfang des Geschehens: Ein Mensch hilft einem anderen. Es ist ein Samaritaner, der einem Juden hilft. Vorher waren ein Priester und ein Levit vorbeigegangen, ohne dem unter die Räuber Gefallenen zu helfen. Das Ganze spielt sich ab auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho, dem heutigen Wadi el-kelt, einer tiefen Schlucht, in der man den Höhenunterschied zwischen Jerusalem, 900 m über dem Meeresspiegel, und Jericho, 250 m unter dem Meeresspiegel, überwinden musste. Ein gefährlicher Weg mit vielen uneinsehbaren Stellen.

Jesus geht es bei dieser Erzählung aber nicht um den Gegensatz von Priestern und Laien, sondern um die Volkszugehörigkeit. Der Satz „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ aus dem 3. Buch Mose (19,18) wurde zu seiner Zeit nur auf die Gemeinschaft innerhalb des jüdischen Volkes bezogen. Fremde blieben außen vor. Um die Herkunft der Samaritaner zu verstehen, muss man ein paar Jahrhunderte weiter in die Vergangenheit zurückgehen: Als das Volk Israel ins babylonische Exil geführt wird, werden nicht alle Menschen mitgenommen, sondern überwiegend die Oberschicht. Vor allem die ärmeren Menschen werden von den Babyloniern zurückgelassen. So nimmt die Entwicklung des Volkes zwei getrennte Wege. Die, die im Lande geblieben sind. Und die, die in die babylonische Gefangenschaft geführt wurden. Als die Gefangenen 40 Jahre später zurückkehren, haben sich beide Teile entfremdet, auch religiös. Die Rückkehrer betrachten sich als das wahre Israel und halten sich von den Bewohnern Samarias fern. So kam es, dass in Israel zur Zeit Jesu zwei strikt getrennte, ja verfeindete Teile desselben Volkes lebten. Und die Pointe Jesu ist, dass in seiner Erzählung diese Feindschaft in der praktischen Hilfe überwunden wird: Ein Samaritaner betrachtet einen Juden als seinen Nächsten und hilft ihm.

Soweit eine kleine Rückblende, um genau zu verstehen, was für eine Geschichte sich da im Kern der Spirale zuträgt. Ein Mensch hilft einem anderen, über verfeindete Volksgrenzen hinweg. Verfolgt man diese Spirale weiter, so kommen zunächst die technischen Hilfsmittel, Öl, Wein, Verband hinzu. Dann der Herbergswirt und das Geld, das ihm gezahlt wird. Der Helfer schafft ein Netzwerk aus Hilfsmitteln und anderen Helfern. Soweit erzählt Jesus die Geschichte.

Vor meinem inneren Auge geht die Spirale aber noch weiter: Wenn dort häufig Reisende überfallen wurden, dann läge doch die Einrichtung eines Spitals nahe. Das wäre allemal leistungsfähiger als ein einzelner Wirt. Als nächstes könnte die Einrichtung einer Polizeistation naheliegen, die die Überfälle eindämmt. Von da könnte man noch weiter nach der politischen Verantwortung fragen: Wie ist es überhaupt dazu gekommen, dass dort so eine „no-go-area“ entstanden ist? Wurde nicht genug zur Bekämpfung der Kriminalität getan? Wieso wurde erst 2000 Jahre später vom Staat Israel eine vernünftige Straße von Jericho nach Jerusalem gebaut? Und ohne die Räuber entschuldigen zu wollen: Aber deren Kriminalität dürfte auch mit Armut zu tun gehabt haben: Warum hat man nicht mehr zur Armutsbekämpfung getan?

Sie sehen, wohin diese Spirale mich führt: Von der Einzelfallhilfe, die sich spontan und konkret zwischen zwei einzelnen Menschen abspielt, über ein Netzwerk der diakonischen Hilfe bis zur politischen Verantwortung der Gesellschaft insgesamt. Hier trägt mehr als einer Verantwortung.

 

Die Geschichte vom „Barmherzigen Samariter“ hat wie kaum eine andere weitergewirkt. Lange Jahrhunderte waren es vor allem die Klöster, die Spitäler bauten und sich der Menschen in Not annahmen. Im 19. Jahrhundert gründete Johann Hinrich Wichern die Diakonie als ein Netzwerk. Und bis heute vertritt das Diakonische Werk auch sozialpolitische Ziele, sodass man sagen könnte: Ja, die Geschichte hat mit der gesamten Spirale der Verantwortung weitergewirkt, von der Einzelfallhilfe über die verbandliche Diakonie bis zur politischen Verantwortung.

Das ist aber m.E. nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte der Wahrheit ist: Letzten Endes ist die Verantwortung doch immer wieder auf den Schultern einzelner Menschen abgeladen worden. Wenn ich z.B. daran denke, wie Gemeindeschwestern noch bis vor einer Generation gearbeitet haben: Völlig alleine, ohne Feierabend, kaum mit der Möglichkeit Urlaub zu nehmen. Erst die Diakoniestationen haben das in den letzten Jahrzehnten geändert.  Oder wenn ich pflegende Angehörige sehe: Bis heute lastet ein enormer Druck auf einzelnen Menschen, auch moralisch. Da helfen auch die professionellen Netzwerke nur zum Teil. Immer wieder geraten einzelne unter den Druck: Du musst, du bist verantwortlich, wenn du es nicht machst, wer soll es sonst machen.

 

Deshalb ist mir das Bild der Spirale so wichtig, weil man an ihr zeigen kann: Sie wird doch selten bis außen gegangen oder wird zumindest nach außen immer blasser. Immer wieder bleiben wir sozusagen in ihrem Kern stecken. Da erkennt einer seine Verantwortung und dann bleibt er weitgehend allein damit.

Deshalb möchte ich diese Geschichte neu lesen und die ganze Spirale stärken. Wir brauchen die Balance von innen und außen. Ein schönes Beispiel ist, was uns Konfliktmediatoren heute sagen, wenn man z.B. in der S-Bahn Zeuge wird, wie ein Mensch angepöbelt oder gewalttätig angegangen wird. Dann braucht es jemanden, der die Initiative ergreift. Das ist der Kern der Spirale. Ohne den geht es nicht. Aber die Mediatoren sagen: Handel nicht alleine. Nimm sofort Augenkontakt mit anderen Mitreisenden auf, verbünde dich, sammel Kräfte der Gemeinschaft und geh dann, möglichst unaggressiv, auf die Angreifer zu. Das heißt: Es geht nie ohne den Einzelnen, der die Not erkennt und die Initiative ergreift. Aber schon der nächste Schritt muss heißen: Tu es nicht allein, such dir Verbündete. So wie der Samaritaner den Wirt hinzuzog. Für mich ist die Quintessenz der Geschichte: Lassen Sie uns die ganze Spirale der Hilfe leben. Von der Initiative und dem Zupacken des Einzelnen, über die Netzwerke, bis zur politischen Verantwortung. Und lassen Sie uns dabei niemanden allein lassen. Lassen Sie uns uns gegenseitig helfen, den moralischen Druck zu nehmen, den manche empfinden. Verantwortung hat nie nur einer alleine.

Bei Jesus ist der Ausgangspunkt seiner Erzählung, dass er gefragt wird: „Was muss ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe?“ Bei Paulus lesen wir dann, dass diese Frage mit Jesu Auferstehung überholt ist. Wir bekommen das ewige Leben geschenkt, müssen uns mit unserem Helfen weder eine goldene Nase noch das ewige Leben verdienen. Trotzdem lebt für mich unser diakonisches Handeln ganz tief aus unserer Spiritualität. Wir tauchen ein in die Gottesliebe, und wir tauchen auf mitten unter den Hilfsbedürftigen. Wir tauchen ein in die praktische Hilfe und tauchen auf in den Armen Gottes. Gottesliebe und Nächstenliebe sind absolut dasselbe. Wo ein Mensch dem anderen hilft, wird die Oberfläche der Welt durchlässig, öffnet sich eine Tür von dieser in die jenseitige Welt. Auf dieser Grenze wandeln wir. Die Liebe führt uns an Grenzen des Lebens, sie ist nicht ganz von dieser Welt. Und das ist schön. Amen.

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