Lukas 2, 1-20 | Die wahre Weihnachtsgeschichte
Klaus-Georg Poehls
Die wahre Weihnachtsgeschichte
Zwei Varianten gibt es von einem wahrhaft unerhörten Vorgang: die Konfis wurden wach, beteiligten sich, die unerträgliche Langeweile des Konfers wurde für eine kleine Zeit durchbrochen wie ein Lichtstrahl den wolkenverhangenen Himmel durchbricht. In einer Gruppe kam es sogar zu Anzeichen von Emotionalität, ja echter Empörung – und alle, wirklich alle wussten, wo sie sind und was gerade besprochen wird. Zum Ende des Jahres eine Sternstunde für den Verantwortlichen – also für mich, sowohl verantwortlich für die gewöhnliche Langeweile, als auch für diese Ausnahmesituation. Wie konnte es dazu kommen?
Wie gesagt, es gibt zwei Varianten: während die Konfis behaupteten, ich hätte ihnen die einzig wahre Weihnachtsgeschichte gestohlen, behauptete ich, ihnen jene gerade geschenkt zu haben. Ein Kampf um die weihnachtliche Wahrheit im Pastorat. Er fand seinen Höhepunkt in einem Wandtafelgemälde mit der Überschrift: „Das ist die wahre Weihnachtsgeschichte“. Und da waren dann Engel und der Stall und Schafe und Kamele (seltsamerweise hatten alle Namen von bestimmten Konfirmandinnen und Konfirmanden), Maria und Josef, die Hirten, die drei Könige – die Liste ist bekannt. Wie hoch der psychische Druck war, unter dem die Künstler standen, zeigte sich daran, dass auch die Zahnfee in das weihnachtliche Geschehen einbezogen wurde.
Dabei war die Frage ganz schlicht: Was kommt in der Weihnachtsgeschichte, wie sie an Heiligabend im Gottesdienst vorgetragen wird, vor und was nicht?
Sie und Ihr alle waren eben die Zuhörer: waren da Schafe? Ein Stern? Waren die Hirten redlich und der Knabe hold mit lockigem Haar? Gab es einen Stall? War es kalt? Waren Maria und Josef auf Herbergssuche? Schwebten über dem –vorhandenen oder nicht vorhandenen? – Stall jubilierende Engel? Ochse und Esel, standen die da irgendwo rum? War die Krippe ein leerer Futtertrog oder ein Bettchen aus Heu und aus Stroh? Waren die Heiligen drei Könige unpünktlich oder kommen sie bei Lukas gar nicht vor
Das Original der Weihnachtsgeschichte ist erstaunlich nüchtern und offenbar waren viele der Meinung, es fehle ihm etwas. Die Geschichte wurde angereichert, zunächst um Elemente aus dem Matthäusevangelium, in dem die Weisen aus dem Morgenland vorkommen, die nur noch Könige werden mussten, und auch der Stern. Und dann noch mehr Legenden und Lieder dazu und es hört nicht auf – immer noch findet sich irgendein Tier im Stall, irgendein Hirtenschicksal, irgendein Geschenk, das dem Jesuskind gebracht wurde.
Wird Weihnachten wahrer, wenn es mehr davon gibt? Reicht Lukas nicht aus mit seinen nüchternen Zeilen?
Nun sollten wir vom Kampf um die Wahrheit lassen, wenn wir sie denn im Sinne von richtig und nachprüfbar, historisch gesichert oder im Sinne einer Schwarmwahrheit verstehen, derzufolge die Masse Recht hat. Dann hätte ich gegen meine Konfis sowieso nichts mehr auszurichten, gegen die weihnachtliche Reizüberflutung auch nicht und die wahre Weihnachtsgeschichte wäre eine in Coca-Cola Rot-Weiß und mit rotnasigen Rentieren.
Näher ist mir das jüdische und frühchristliche Verständnis von Wahrheit, mit dem auch nicht mehr gekämpft werden muss. Denn hier ist Wahrheit das, was einen Menschen trägt, was ihn durchträgt durch Widrigkeiten, ihm Halt gibt, was ihn singen und danken lässt.
Nur so kann ich reden von einer „wahren Liebe“ und erst recht nur so von einem „wahren Glauben“. Und nur so kann ich Freude empfinden an anderen „wahren Formen von Glaube, Liebe und Hoffnung“.
„Wahrer Glaube“ ist alltagstauglich und bewährt sich im wirklichen Leben –selbst wenn er sich gründet auf eine Geschichte, die voll ist von Engeln und Wundern.
Hat die Weihnachtsgeschichte des Lukas eine alltagstragende und alltagsverändernde Kraft – oder ist sie gefangengesetzt in einem weihnachtlichen
Zeitfenster, das sich meist beschränkt nur auf diesen einen halben Tag?
Lukas führ uns in den Alltag von Menschen hinein, genauer in einen Alltag, der himmlisch unterbrochen wird. Damit fängt Religion an: eine andere Stimme wird hörbar, eine andere Wirklichkeit dringt in mein Leben ein, vielleicht stört sie zuerst, ist gar nicht willkommen.
Noch heute Vormittag habe ich versucht, der quäkenden Klarinette, die zum zigtsen Male „Stille Nacht spielte“ den Wert einer heilsamen Unterbrechung zu geben – vergeblich.
Aber ein Video auf Youtube, in dem ein Flashmob zu sehen ist, kann das: kann heilsame Unterbrechung, Religion sein: eine Frau steht in einem shopping center in den USA unter lauter Hamburger kauenden Leuten auf, stellt sich auf einen Stuhl und singt das Halleluja aus Händels Messias. Und andere fallen ein - wie zufällig und doch gewollt, entsteht ein Chor und bringt andere zum Staunen, zum Lächeln – zum Heulen schön ist das!
Oder gestern der Anruf eines alten Mannes, eines Juden, von dem ich schon meinte, er sei gestorben: und er wünscht einem Christen ein frohes Fest. Die Welt wird wieder ein Stück weiter, mehr ist möglich, ein Ja wird laut.
Die Hirten ließen sich unterbrechen, folgten einer himmlischen Stimme und fanden ein Kind. Ein Kind, für sie, für uns geboren. Später wird dieses zum Mann gewordenen Kind sagen: „Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen“.
Und heute verstehe ich diesen Satz so: wer Gott nicht empfängt, wie er ein Kind empfängt, das ihm in den Arm gelegt worden ist, der wird Gott nicht spüren. Die göttliche Wirklichkeit, die Welt Gottes oder sein großes Ja braucht eine Seite in uns, die ich mir selbst oft nicht erlaube: die empfangende, die be- und meinetwegen auch gerührte.
Ein Kind ist uns geboren: ein heilsamer Anfang ist uns geschenkt, wir lernen, uns als Beschenkte zu verstehen. Beschenkt mit alldem, was ich nicht machen kann, was einer Wirklichkeit entstammt, die nicht meine ist und mir doch offen steht.
„Als die Hirten es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, das zu ihnen von diesem Kinde gesagt war. Und alle, vor die es kam, wunderten sich über das, was ihnen die Hirten gesagt hatten.“
Was also gebe ich weiter von diesem Kind aus Bethlehem; was kann ich anderen Menschen tun, dass sie sich wundern über ein göttliches Kind?
Ein treuherziges Bekenntnis: „Du, dir ist heute der Heiland geboren“, wird nicht weihnachtliches Wundern hervorrufen, sondern Befremden. Frommes Zutexten anderer ist nicht geboten – auch wenn ich es gerade mache.
Aber geboten ist das Weitersagen von dem, was mich trägt und hält. Ein göttliches Ja zu allen Menschen und zu dieser Welt. Das Kind in der Krippe ist das leibhaftige Ja Gottes.
Das wirft ein kritisches und zugleich warmes Licht auf all meine lauen Jas, gesprochen ohne mein Einverständnis, auf die entschiedenen Jeins, die wir uns immer wieder aus der Politik anhören müssen und auf die paar wenigen großen Jas, die mein Leben ausmachen und die alle einem göttlichen Ja entstammen::
Das Ja meiner Eltern zu mir, das Ja zu meinen Freunden, das Ja zu meiner Frau in dieser Kirche, das Ja zu meinen Kindern. Gott hat ein Ja geschenkt und das ist ein wunderschönes Geschenk, das ist die wahre Weihnachtsgeschichte.
Ein solches Ja ist das gesündeste und gütigste und barmherzigste Wort aller Wörter. Ja kommt aus der Freiheit des Gottes-Geistes, ja atmet Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanft-Mut.
Dieses Ja ist zu finden im Kind in der Krippe. Und was wir dort finden, lasset uns künden, / lasset uns preisen in frommen Weisen. / Halleluja!