Matthäus 21, 14-17 | am Sonntag Kantate

22.05.2011 | 02:00

Propst Dr. Horst Gorski

Liebe Gemeinde,

„Kindermund tut Wahrheit kund“, sagt man. Es klingelt an der Tür. Die kleine Anna öffnet und sagt: „Tut mir leid, Sie können meine Mama nicht sprechen. Sie sagt, sie ist im Augenblick nicht zu Hause.“ Im Tempel zu Jerusalem geschieht so ein Moment, so eine „Schrecksekunde“. „Hosanna dem Sohne Davids“ – die Kinder rufen Jesus als Messias aus. Das war Gotteslästerung; darauf konnte die Todesstrafe stehen. Aber statt den peinlichen Moment zu überspielen, nimmt Jesus den Ball auf und zitiert Psalm 8: „Aus dem Munde von Kindern und Säuglingen wird Gott gelobt.“ Und dreht sich um und geht.

Was hat es auf sich mit dem „Kindermund“ und Gott? Und wie begann eigentlich der Glaube, als wir Kinder waren? Der Theologe und Meditationslehrer Karlfried Graf Dürckheim beschreibt, wie in seiner eigenen Entwicklung die religiöse Erfahrung mit frühkindlichen Erlebnissen begonnen hat: Er sitzt und spielt gedankenverloren, betrachtet eine Blume, er fühlt sich mit der Natur eins - und hat seine ersten religiösen Erfahrungen gemacht.[1] Für ihn wurden diese Kindheitserlebnisse zentral, weil sie ihn lehrten, sich dem Geheimnis der „Seinsfühlung“ zu nähern. So nämlich nennt Dürckheim das religiöse Grunderleben: mit dem Sein, von dem wir herkommen und an dem wir teilhaben, Fühlung aufzunehmen. Die ersten  Tagträumereien sind die erste religiöse Erfahrung.

Welch eine Entdeckung! Und was machen wir daraus?! Wohl kaum einer unter uns dürfte die Erfahrung gemacht haben, dass diesen kindlichen Träumereien Wertschätzung entgegengebracht wurde. Im Gegenteil. „Spiel doch vernünftig“ oder „Träum nicht schon wieder“ hieß es von Seiten der Erwachsenen. Was für ein Schade muss das sein, wenn unsere ersten religiösen Erfahrungen nicht als solche entdeckt, benannt und geachtet, sondern abgewertet werden! Wie schwer hatten es danach wohl manche von uns, sich religiöse Erfahrungen erst wieder neu zu erkämpfen. Achten wir also die Tagträumereien, in denen wir uns mit dem Sein verbunden fühlen. Sollten Sie während meiner Predigt vorübergehend zu Träumen beginnen, wäre das - unter diesem Gesichtspunkt - also nicht zu kritisieren.

Dürckheim beschreibt, wie dann allerdings in der Entwicklung des Menschen diese ursprünglich-naive Verbundenheit mit dem Sein notwendig zerbricht. Indem das Kind anfängt, die Welt zu begreifen, bildet es sein eigenes Ich aus. Indem ein Kind die Gegenstände seiner Welt anfasst, begreift es sie. Und die Welt der Gegenstände wird zu einem Gegenüber – „Gegenstände“ sind ja das, was uns gegenüber steht. Ich und Welt stehen sich fortan gegenständlich gegenüber. Das Begreifen der Welt ist leider auch das Ende der unmittelbaren Seinsfühlung. Indem das Kind tastend die Dinge um sich begreift und dies anschließend mit dem Verstand seines Ich nachvollzieht, bricht die Kluft zwischen ihm und dem Sein auf. Das Begreifen bringt uns voran auf dem Wege, unser Ich als Gegenüber zur Welt auszubilden, entfernt uns aber gleichzeitig von der Seinsfühlung, also von dem, was in dieser Welt wesentlich ist.

Damit ist unser Lebensthema gegeben: Der Rest des Lebens besteht darin, das, was wir alle einmal hatten und verloren haben, diese Seinsfühlung, wieder zurückzugewinnen. Das geht natürlich nicht, indem wir wieder zu echten Kindern werden, sondern indem wir eine Art „2. Naivität“ erreichen. Das heißt, unsere Vernunft schalten wir nicht aus, unsere Fragen verleugnen wir nicht, die Anfechtungen verdrängen wir nicht. Aber so unterschiedlich wir Menschen sind: auf irgendeine Weise sucht jeder Mensch nach Wegen, jenseits von allen Fragen und allem intellektuellen Verstehen wieder zu einer unmittelbaren Fühlung des Seins zurückzukehren. Das ist nichts anderes, als was die christlichen Mystiker die Vereinigung mit Gott genannt haben. Statt „Seinsfühlung“ könnte man auch sagen: Tuchfühlung mit Gott.

Auf diesem Weg kommen wir unterschiedlich weit. Einige wenige Menschen erreichen diese Tuchfühlung mit Gott in diesem Leben. Die meisten von uns kommen wohl ein Stück weit voran, aber kommen erst im Sterben ans Ziel, oder vielleicht auch erst danach.

Die Wege, die wir dabei gehen, sind unterschiedlich. Für den einen führt der Weg zur Seinsfühlung über Stille und Meditation, für den anderen über Rausch und Ekstase, für den dritten über die Betrachtung der Natur, für den vierten über die Vertiefung in ein Kunstwerk. Die Musik ist zweifellos ein Weg, der in besonderer Weise Menschen zur Seinsfühlung oder zur „Tuchfühlung“ mit Gott verhilft.

Diesen Gedanken möchte ich vertiefen anhand der Musik von Wolfgang Amadeus Mozart. Und ich greife dazu Gedanken des großen Theologen Karl Barth auf, dessen 125. Geburtstag am 10. Mai gefeiert wurde. In einem Beitrag zum Mozartjahr 1956 steht am Anfang sein „Bekenntnis zu Mozart“:

„Musiker oder Musikwissenschaftler bin ich ja nicht. Aber zu Mozart bekennen kann und muß ich mich wohl. Meine erste Begegnung mit großer Musik -- ich muß damals etwa fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein - war meine Begegnung mit Mozart. Es handelte sich - ich sehe die Situation noch vor mir - um ein paar Takte aus der «Zauberflöte» ..., von meinem Vater auf dem Klavier angeschlagen. Sie gingen mir «durch und durch». Ich bin dann älter und schließlich alt geworden. Ich habe noch viel mehr und ganz anderes von Mozart gehört. Er wurde mir je länger je mehr zu einer Konstante meines Daseins. Man hat mich schon gefragt, ob ich nicht von meiner theologischen Richtung her auf dem Feld der Musik ganz andere Meister entdeckt haben müßte. Ich habe zu bekennen...: Nein, es handelt sich um diesen und keinen anderen. Ich habe zu bekennen, daß ich ... seit Jahren und Jahren jeden Morgen zunächst Mozart höre und mich dann erst (von der Tageszeitung nicht zu reden) der Dogmatik zuwende. Ich habe sogar zu bekennen, daß ich, wenn ich je in den Himmel kommen sollte, mich dort zunächst nach Mozart und dann erst nach Augustin und Thomas, nach Luther, Calvin und Schleiermacher erkundigen würde. Aber wie soll ich mich darüber erklären? In ein paar Worten vielleicht so: Zum täglichen Brot gehört auch das Spielen. Ich höre Mozart - ... und so nur ihn - spielen. Spielen ist aber ein Ding, das gekonnt sein will, und insofern eine hohe und strenge Sache. Ich höre in Mozart eine Kunst des Spielens, die ich so bei keinem anderen wahrnehme. Schönes Spielen setzt voraus: ein kindliches Wissen um die Mitte - weil um den Anfang und um das Ende - aller Dinge. Ich höre Mozart aus dieser Mitte heraus, von diesem Anfang und Ende her musizieren.“

Spielen – das kindliche Wissen um die Mitte. Karl Barth hätte nie das Wort „Seinsfühlung“  gebraucht. Ihm ging es immer um Gott als den ganz Anderen, Fremden, zu dem man nicht in Tuchfühlung treten kann. Religiöse Erlebnisse waren ihm verdächtig. Und trotzdem: ich glaube, er spricht von derselben Sache. Und auch bei ihm beginnt es mit einer Kindheitserfahrung! Was Mozart in ihm als „Wissen um die Mitte“ anrührt, kann man Seinsfühlung oder Gottesgegenwart nennen. Es ist doch dasselbe. Jeder Mensch erlebt es auf seine Weise. Vielleicht ist es kein Zufall, dass gerade Mozart sich dieses „kindliche Wissen um die Mitte“ bewahrt hat. Der Film „Amadeus“ von Milos Formann hat uns ja die alberne, grotesk-kindlich gebliebene Seite Mozarts drastisch vor Augen geführt. Mag sein, dass Mozart nie richtig erwachsen wurde und gerade deshalb immer eine Verbindung zum kindlichen Wissen um die Mitte hielt. Ich selbst habe übrigens auch einige Mozart-Stellen, die in mir etwas auslösen, was keine andere Musik je ausgelöst hat: das Gefühl eines gnädigen Friedens, der alle Wunden und Schmerzen heilt. Welche Stellen das sind: Das bleibt mein Geheimnis. Sie werden Ihre Geheimnisse haben.

Ob es nun Kindermund ist oder die große Stille, ob Mozart oder eine Blume: die Schöpfung ist voll der Bekenntnisse zu Gott. Und er selbst mittendrin rührt uns an, dann und wann, so oder so.  Das freut das Herz.

In einem fiktiven Brief an Mozart schrieb Barth weiter:

„Wie es mit der Musik dort steht, wo Sie sich jetzt befinden, ahne ich nur in Umrissen. Ich habe die Vermutung, die ich in dieser Hinsicht hege, einmal auf die Formel gebracht: ich sei nicht schlechthin sicher, ob die Engel, wenn sie im Lobe Gottes begriffen sind, gerade Bach spielen - ich sei aber sicher, daß sie, wenn sie unter sich sind, Mozart spielen und daß ihnen dann doch auch der liebe Gott besonders gerne zuhört.“ Amen.

 

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[1] Karlfried Graf Dürckheim, Erlebnis und Wandlung. Grundfragen der Selbstfindung. suhrkamp, erweiterte Auflage von 1992, hier insbesondere S. 17-25

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