Matthäus 5, 3 – 10

01.11.2009 | 17:30

Dr. U. Murmann

„Welche Erneuerung braucht die Kirche? Von umwerfenden Kraft der Seligpreisungen“

Liebe Gemeinde,

in den Kommentaren der vergangenen Woche konnte man lesen und hören: Nun muss eine Frau die evangelische Kirche aus der Krise führen und die Reformen weiter vorantreiben. Das will die neue Ratsvorsitzende der EKD, Margot Käßmann auch tun, weniger mit Druck von oben, wie sie sagt, sondern durch Ermutigung von unten.

Aber welche Reform, welche Erneuerung braucht unsere Kirche eigentlich? Ich finde die Antwort gar nicht so leicht. Brauchen wir mehr Offenheit und Moderne oder stärkere Rückbesinnung auf Bibel und Tradition? Mehr Zuversicht und Glaubensmut, mehr „yes, we can“ oder mehr gesellschaftskritisches Potential und Salz der Erde? Eine intensivere Hinwendung zu den sogenannten Kirchenfernen, also den Menschen am Rande unserer Kirche, die kaum noch begründen können, warum sie Christen sind, oder ein stärkeres Engagement bei denen, die wir verloren haben bzw. aus den östlichen Bundesländern kommen und areligiös aufgewachsen sind? Sind Hauskreise, Glaubenskurse und Evangelisation der richtige Weg zu einer lebendigen und überzeugenden Kirche oder eher eine aktive Integration in das Gemeinwesen, Mitwirken in der Bürgergesellschaft und die Organisation von Bürgerforen?

Wahrscheinlich gibt es wie so oft nicht nur eine Antwort, sondern jede Kirchengemeinde muss in ihrer Region das Profil finden und schärfen, das vor Ort gebraucht wird.

Nur 3-4% unserer Mitglieder kommen Sonntags in unsere Gottesdienste. Die Mehrheit unserer Gemeindeglieder lebt ihr Christsein auf andere Weise. Sollen wir deswegen unsere Gottesdienste erneuern? Ist die mangelnde Teilnahme am Sonntagsgottesdienst, das verbreitete Desinteresse an der Ortsgemeinde und kirchlicher Gemeinschaft ein Makel oder vielleicht im Gegenteil ein Kennzeichen des deutschen Protestantismus? Bei uns gehöre das  „Kirchesein zwar zur Form, aber nicht zur Substanz christlichen Lebens gehöre“, meint der Berliner Theologe W. Gräb. Zum Glück sind wir Evangelischen tatsächlich eine Kirche der Freiheit, in der unsere Mitglieder die Freiheit haben, ihre Nähe und Distanz zur Kirche und ihr Teilnahmeverhalten selbst zu bestimmen. Und wie hat Albert Schweitzer einmal richtig bemerkt: „Man ist noch lange kein Christ, wenn man ab und zu in die Kirche geht. Man wird ja auch kein Auto, wenn man ab und zu in der Werkstatt steht“…

Obwohl, so wie es dem Auto gut tut, ab und zu eine Werkstatt aufzusuchen, so kann es auch dem Christen nicht schaden, in die Kirche zu gehen, oder?

 

Ein paar Zahlen möchte ich Ihnen heute Morgen noch zumuten, liebe Gemeinde, damit wir den Trend vor Augen haben, auf den wir reagieren müssen: Im Zeitraum von 1964 bis 2006 sank die Zahl der ev. Kirchemitglieder in Deutschland von 40 Mio auf rund 25 Mio. Natürlich sind daran nicht nur erschöpfte Pastoren und Pröpstinnen Schuld, sondern man muss diese Zahlen interpretieren und die Ursachen genau analysieren (Traditionsabbruch, Individualisierung, die demographische Entwicklung in Deutschland, Konfessionslosigkeit in Ostdeutschland), aber es bleibt dabei: Wir verlieren pro Jahr 250.000 Mitglieder, das sind 150 Kirchengemeinden, wenn man die durchschnittliche Zahl von 1600 Mitgliedern pro Gemeinde rechnet. Das Impulspapier der EKD hat auf dieser Grundlage prognostiziert, dass die EKD bis 2030 um ein weiteres Drittel schrumpfen wird und nur die Hälfte der jetzigen Finanzmittel zur Verfügung haben wird.

 

Welche Wirkung haben diese Zahlen auf Sie, liebe Gemeinde? Bleiben Sie ganz gelassen, nach dem Motto: Bei uns in Blankenese trifft das eigentlich nicht zu, wir wachsen gegen den Trend (Lebendigkeit der Blankeneser Gemeinde und Gemeindeakademie). Oder empfinden Sie es auch ernüchternd und entmutigend, dass immer mehr Menschen in Ihrem Freundeskreis aus unserer Kirche ausgetreten sind – Menschen, von denen Sie das nie erwartet hätten? Oder gehen Sie nach solchen Prognosen in die Offensive: Jetzt müssen echte Reformen her!

 

Gestern war Reformationstag und es ist ein guter Brauch an Martin Luther und seine Mitstreiter zu erinnern und sich vor allen Erneuerungsbemühungen die Grundlagen unserer ev. Kirche ins Gedächtnis zu rufen, wie sie in der Rechtfertigungslehre zum Ausdruck kommen: Du bis von Gott gerecht gesprochen und angenommen allein aus Glaube, sola fide und nicht durch Gesetzeswerke, allein aus Gnade, sola gratia und nicht durch Ablass oder andere Zahlungen, allein durch das Zeugnis der Bibel, sola scriptura und allein durch Christus, solus Christus, durch keine kirchliche Hierarchie. Durch die Rückbesinnung auf die Grundlagen des biblischen Zeugnisses haben die Reformatoren unsere Kirche erneuert, und ich habe mich daher richtig gefreut, als ich feststellte, dass die Seligpreisungen den Predigttext für diesen Sonntag darstellen. Genau genommen sind sie für den Reformationstag vorgesehen, aber ebenso für Allerheiligen heute. Ich habe mich gefreut, weil es kaum einen anderen Text im Neuen Testament gibt, an dem man unser evangelisches Erbe so wunderbar entfalten kann.

 

Die Seligpreisungen sind das Proprium der Predigt Jesu, sie stehen bei Matthäus am Beginn seiner Bergpredigt und fassen seine Botschaft thesenartig zusammen. Das Besondere: Sie sind eine einzige Zusage, ganz und gar Evangelium, ganz und gar Zuspruch und Ermutigung. Jesu Zusage gilt Menschen, die suchen, warten, hoffen, bedürftig sind, - sie gilt den Sehnsüchtigen, Unerfüllten, also uns. Sie gilt dir, wenn du noch oder vielleicht erneut auf der Suche bist, nach einem Sinn für dein Leben, für einen neuen Lebensabschnitt, für einen neuen Anfang, den du ergreifen willst. Sie gilt dir, wenn du dich nicht zufrieden gibst mit der Welt so wie sie ist, mit der Ungerechtigkeit auf Erden, der unverschämten Schere zwischen arm und reich nicht nur weltweit, sondern hier vor unseren Toren, hier in Hamburg. Sie gilt dir, wenn du dich nicht damit abfinden willst, dass Menschen in Afrika verhungern und verdursten, während wir im Überfluss baden und Ressourcen wie Wasser und Öl leichtfertig verschwenden.

Selig sind die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden.

Selig sind die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.

 

Im Mittelpunkt der Seligpreisungen Jesu stehen Menschen, die von sich aus nichts vorzuweisen haben, weil sie wissen, wie sehr sie ihr Leben anderen verdanken. Jesus wendet sich an Menschen, die nicht fertig sind mit ihrem Leben, die sich von dem Schicksal anderer berühren lassen, die auf ihr Herz hören und nicht allein dem rationalen Kalkül folge leisten, die barmherzig sein wollen und nicht nur auf das blicken, was Norm und Moral für geboten halten, die mitempfinden und mitleiden. Dies sind ja oft Menschen, die selbst erfahren haben, dass das Leben nicht geradlinig verläuft oder immer bergauf, sondern Spuren des Leidens und Falten des Kummers hinterlässt, Wunden, die immer wieder aufbrechen und Brüche, die nie ganz verheilen. Wir alle sind in diesem Sinn bedürftig, sehnsüchtig, bittend, hungernd, auf der Suche nach Liebe und Annahme, Trost und Halt.

Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.

Selig sind die da geistlich arm sind, denn ihrer ist das Himmelreich.

 

Geistlich arm, das bedeutet, mutlos, hoffnungslos, verzweifelt – diese Worte Jesu beschreiben eigentlich eine unmögliche Möglichkeit, eine Zu-Mutung. Sie sind umwerfend, weil sie alles umwerfen, was unter uns gilt und wirkt: Wer Leid trägt, ist eben ganz bestimmt nicht glücklich, und wer barmherzig ist, wird in unserer Gesellschaft oft belächelt. Wer geistlich arm ist, kann nach landläufiger Meinung nicht selig sein, wer sanftmütig ist, wird in der Regel der letzte sein. Diese Seligpreisungen sind kühn, irritierend, aufrüttelnd, umwerfend.

Mit ihnen sagt Jesus seinen Zuhörern eine Zukunft an, die für sie ganz und gar neu ist und unmittelbar mit Jesus selbst zusammen hängt. Es ist die Zukunft, die mit ihm angebrochen ist. Diese Worte sind eschatologisch gemeint, sie beziehen sich auf das himmlische Reich, das uns bei Gott verheißen ist. Im Glauben aber haben wir schon jetzt daran Anteil. Sola fide, sola gratia, solus Christus werden wir die Seligkeit erlangen, nicht durch uns selbst. Wer Jesus vertraut, kann dies schon jetzt erleben. Wer sich auf ihn verlässt, „hat sich von der Illusion verabschiedet, sein Glück oder seine Seligkeit selbst herstellen zu müssen oder gar zu können“ (Albrecht). Wer auf JC und Gott vertraut, der kann schon jetzt erleben, wie es ist, getröstet zu werden, gesättigt zu werden, geistlich beschenkt und reich zu werden im Glauben.

Selig sind die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.

Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen.

 

Von dem Theatermacher und Lichtkünstler Michael Batz las ich kürzlich eine Definition, die mir lange nicht aus dem Kopf ging. Sie bezog sich auf den Begriff der Inspiration und lautete sinngemäß so: Nur wer sich selbst vergisst/verliert, dem fällt etwas ein. Das kann man mit dem Glauben vergleichen: Glauben heißt von sich selbst absehen auf Gott, sich ver- lassen, ihm mehr zu trauen als sich selbst, denn er will, dass wir getröstet werden, dass wir hoffen und nicht verzweifeln, dass wir Frieden haben in unserer Seele, in unseren Häusern, auf dieser Welt. Er will, dass wir selig werden und wirkt es schon jetzt.

 

Der eigentliche Kern der reformatorischen Entdeckung Martin Luthers, in deren Zusammenhang vermutlich auch die Ereignisse am Vorabend des Allerheiligenfestes 1517 standen, war die Erkenntnis, dass das Wort Gottes nicht nur vom Trost redet, sondern tröstet, in seiner Formulierung „zubringt, was es sagt“. Und so, wie das ganze Evangelium für Luther getrost machendes, lebendiges Wort Gottes ist, das Gnade nicht nur zuspricht, sondern bewirkt, so verstand er auch die Seligpreisungen der Bergpredigt als Worte, die zuallererst Trost schenken wollen durch Jesus Christus. Im Vertrauen auf Jesus werden die Seligpreisungen ihre heilende Kraft entfalten.

 

Wenn dies so ist, werden Sie jetzt fragen, warum sieht man uns das nicht an? Warum sind wir so zurückhaltend, wenn es um ein öffentliches Bekenntnis zu unserer Kirche geht, warum sind wir so scheu von dem zu reden, was uns wirklich trägt? Wie heißt es so schön: Wenn die Christen etwas erlöster aus ihren Gottesdiensten gingen, ja dann würden sie wieder mehr Zulauf bekommen. Das Ansteckende, das Mitreißende fehle.

Liebe Gemeinde, ich finde das gar nicht schlimm und ich teile die Auffassung nicht, dass wir immer und überall und vor allem mit großem Halleluja unseren Glauben bezeugen. Hinter meiner Nüchternheit verbergen sich also nicht allein eine gewisse hanseatische Zurückhaltung, sondern das Wissen darum, dass alles, was wir haben ein Geschenk ist, aus reiner Gnade zugetan, nicht unser Verdienst. Unser Gott wird sich seine Kirche bauen und uns dazu gebrauchen, so wie er es für recht hält. Er ist der Grund unserer Gemeinschaft, er wirkt, wo er will, in aller Freiheit und sendet seinen Geist an den Ort, den er auswählt. Wir sind in all dem immer Empfangende und geben weiter, was er uns schenkt.

 

Welche Erneuerung braucht unsere Kirche? Ich meine, wir brauchen vor allem anderen die innere Erneuerung, die Glaubensgewissheit, die aus der Erfahrung erwächst, von Jesus Christus selig genannt zu werden: Denn du bist gemeint mit diesen Worten, dir gibt Gott seine tröstende Nähe, seine selig machende Kraft, seinen ermutigenden Geist. Er schenkt dir die Freiheit, deinen Weg unter seinem Schutz und Segen zu gehen – die Gemeinschaft der Christen und unsere Kirche kann dir dabei eine Hilfe sein. Sie wird für dich in allen Gottesdiensten beten und für dich da sein, wann immer du kommst. Vielleicht wird sie kleiner, aber solange Gott um sie ist, wird sie nicht schwächer – denn seine Kraft ist ihre Zukunft. Amen.

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