Psalm 139 | zum Beginn der ökumenischen Bibelwoche

22.01.2012 | 01:00

Andreas Güthling

Liebe Gemeinde!

Hier denkt ein Mensch über sich selbst nach. Und man spürt ihm ab, dass er viele Ursachen hat zu Grübeln und sich tiefsinnige Gedanken zu  machen, wenn er das Geheimnis seiner eigenen Person ergründen will.

Wann haben wir das eigentlich zum letzen Mal gemacht? - Man kommt gar nicht dazu, denn man hat ja soviel um die Ohren; man ist eigentlich ständig im Stress und im Zeitdruck… Auch die Rentner, denn gerade die haben ja bekanntlich am wenigsten Zeit…

… Aber vielleicht war da eine Krise, die du unlängst hinter dir hattest, eine Lebenskrise, oder vielleicht eine Beziehungskrise, oder vielleicht eine Krankheit mit ihren unabsehbaren Folgen, die dich plötzlich ins Nachdenken über dich selber und über dein Leben gebracht haben…

Wer bin ich eigentlich? --- Wer möchte ich sein? Vor meinem Partner, vor meinen Kindern und Enkelkindern? Vor meinen Kollegen und Nachbarn? Vor den Leuten in der Gemeinde? Wer möchte ich sein?

„Image-Pflege“ nennt man das. Die Leute sollen ein bestimmtes Bild von mir haben, das ich entsprechend aufpoliere. Aber: WER BIN ICH WIRKLICH??!!

Wer bin ich, wenn keiner zuguckt? Wer bin ich, wenn ich meine Dienstkleidung abgelegt habe? Also all das, was zu dem Funktionieren meiner Person und meines Lebens gehört. – Wenn ich das einmal ablege. – Wer bin ich dann?!

Welche Abgründe tun sich da auf, wenn ich mir selber auf die Schliche komme; wenn ich mir tatsächlich selber begegne?

Welche Eitelkeiten pflege ich. Wie wichtig ist mir, dass ich beachtet werde? Und dass die anderen bloß auch gucken, wer ich bin und wie ich das wieder hingekriegt habe…

Wie gierig bin ich nach Macht, nach Einfluss? – Natürlich immer anders ausgedrückt…

WER BIN ICH?! – Wenn keiner zuschaut und wenn alles das, was mich in dieser Welt so auszeichnet, abfällt???

Eine kleine Episode aus dem Hauptmann von Köpenick:

Karl Zuckmayer verkleidet ja hier in der Form einer Komödie eine ganz tiefe Weisheit über uns Menschen.

Dieser Wilhelm Voigt hart im Gefängnis gesessen, kriegt keine Arbeit, weil er keine Aufenthaltsgenehmigung kriegt; und kriegt keine Aufenthaltsgenehmigung weil er keine Arbeit hat… Und so tigert er von einer Stelle zu andern.

Gestern war er auf einem Friedhof und hat an einer Beerdigung teilgenommen und dann erzählt er seinem Kumpel:

Vorhin, uffn Friedhof, wie de Brocken uffm Sarg runterjeflogen sind, da hab icks jehört! Da war se janz laut!

Wer? Wat hast de jehört?

De innere Stimme. Da hat se jesprochen. Und da is alles Totenstill jeworden in mir. Und da hab icks vernommen: Mensch, hat se jesagt: Einmal is jeder dran. Du auch, hat se jesagt; und denn, denn stehst de vor Gott, dem Vater stehste, der alle jeweckt hat, vor dem stehst denn und der fracht dich ins Jesichte: Wilhem Voigt, watt hat hast de jemacht mit deinem Leben?

Und da muss ick sagen: Fußmatte – muss ick sagen – die hab ick jeflochten im Jefängnis. Und denn sind se alle druff rumjetrammpelt, muss ick sagen.

Und zum Schluss hast denn jeröchelt und jewürkt um det bisschen Luft und denn wars aus.

Ditt sachst de vor Gott, Mensch. Aber der sacht zu dir:  Je wech, sagt der, Ausweisung – sagt der! Dafür hab ick dir det Leben nich jeschenkt, sagt der. Det biste mir schuldig! Wo is et? Wat hast de damit jemacht?!

Und dann Friedrich: Und wieder iset nischt mit der Aufenthaltsjenehmigung…

Wilhelm! Du pochst an de Weltordnung! Det is ne Versündigung, Wilhelm! Det änderst de nich, Wilhem! Det änderst DU DOCH NICH!

Det, will ick och nich! Det will ick nicht, Friedrich! Det könnt ick ja nich. Da bin ick viel zu allene für…

Aber so knickerig, verstehst de, möchte ick mal nich vor meinem Schöpfer stehn. Ick will ihm nischt schuldig bleiben, verstehste?!

            WER BIN ICH???!

Wer bin ich, wenn ich dann tatsächlich vor ihm stehe und er mich fragt: Was hast Du gemacht mit deinem Leben?

Die Frage „Wer ich bin?“ kann natürlich zu einer selbstmörderischen und zerfleischenden Selbstanalyse werden, dass ich nachher das Gefühl habe: ich drehe mich nur noch um mich selbst, bis ich ganz ermattet umfalle…

Unser Psalm 139 macht deutlich: Unser Selbstgespräch wird ein Zwiegespräch. Aus dem Selbstgespräch wird ein Gebet. Dass ist eine Aufgabe dieser Predigt heute. Dass sie uns daran erinnert, dass aus unseren Selbstgesprächen und Selbstreflexionen – Zwiegespräche mit Gott werden können.

Wir haben das vielleicht beim Vorlesen des Psalms gemerkt: der bleibt nicht bei sich selbst, bei seinen Reflektionen, sondern er hat ein Gegenüber gefunden, vor dem er die Fragen stellt und im Gegenüber zu diesem Gott versucht er herauszufinden, WER ER IST. Und dann merkt er: Ohne meine Beziehung zu Gott kann ich gar nicht ausreichend uns zutreffend sagen, wer ich bin. 

Und wenn ihr anfangt über Gott zu reden, dann möchte ich etwas dazu beitragen, wer dieser Gott für mich ist.

Dieser Gott ist der Allwissende. Der Beter spielt das mal son bisschen durch: So all die möglichen und unmöglichen Entfernungen und Verstecke, die ein Mensch sich ausdenken könnte – und am Ende muss er immer wieder einsehen: Überall ist Gott. Ich werde Gott nicht los!!! Und du denkst, du bist „Gottlos“!?

Du bist Gott nicht los!

Aber das ist für diesen Beter jetzt nicht ein Trauma, sondern für diesen Beter ist das eine ganz tiefe Geborgenheit. Und wissen Sie warum? – Weil er sagt: Dieser Gott versteht mich besser, als ich mich selber verstehe. Der sieht nicht nur das, was ich heute tue, oder was ich gestern gemacht  habe. Sondern dieser Gott sieht mein ganzes Leben. Dieser Gott sieht meine Geschichte. Und deswegen wird dieser Gott mich immer verstehen und besser verstehen, als mich andere Menschen verstehen können.

Besser, als ich mich selber verstehen kann…

Liebe Gemeinde, ich möchte uns heute vor diesen Gott stellen, der uns kennt und uns versteht, weil er unsere ganze Lebensgeschichte im Blick hat.

Nicht nur die Katastrophenjahre, nicht nur die Zeit, als wir vielleicht abgestürzt waren, nicht nur die Krisenphasen der Vergangenheit oder die Krise, in der du jetzt vielleicht gerade steckst. SONDERN: Gott sieht deine GANZE Wegstrecke.

Gott weiß sogar, ob du von deinen Eltern gewünscht und herbeigesehnt worden bist. Oder ob du schon als Ungeborener mit einer Front kämpfen musstest…

Mit einer Front von Gleichgültigkeit und Ablehnung. – Gott weiß das! So intim und so weit  geht seine Kenntnis meines Lebensweges zurück.

Diesen Gott möchte ich mich sehr wohl anvertrauen, weil ich glauben kann, dass er keine falschen, keine oberflächlichen Urteile über mich spricht!!! Dieser Gott hat sich gefreut auf mich. – Der konnte es kaum erwarten bis ich endlich zur Welt gekommen bin. – Sie müssen das noch mal nachlesen, zuhause: Wie das Kind gezeugt ist; wie die ersten Stunden und Tage und Wochen eines Embryos dann entwickeln und der Beter sagt hier  immer: Gott hat das alles verfolgt! Als könnte er es nicht erwarten, bis ich endlich zur Welt gekommen bin. – So hat Gott sich auf Dich und auf mich gefreut!!

Stellen wir uns das mal vor: Er konnte es kaum erwarten!

Und dann heißt es hier noch: Er hat mich großartig geschaffen! Also zugegeben, ich würde das von mir nicht so gern vor Euch behaupten: Ich bin großartig…

Aber wenn ich das im Bekenntnis dieses Psalm hier sagen kann, und wenn ich Gott damit ehren kann, dann würde ich sagen: Tatsächlich! Jeder von uns: EIN GROßARIGES ORIGINAL! „Ich danke dir“, heißt es hier, „dass ich wunderbar, einzigartig geschaffen bin“.

WANN HABEN SIE zum letzen Mal über Ihre Einzigartigkeit gestaunt und sich gefreut?! Oder kriegen Sie immer nur von den Andern zu hören, wie Unmöglich Sie sind? Dass Sie sich gar nicht über sich freuen können? Weil die Anderen Ihnen immer etwas anderes einreden wollen?

Kommen wir uns unseren Selbstgesprächen auf die Schliche, mit denen wir uns systematisch auch ein Bild MACHEN, von uns selbst??? 

Lesen Sie diesen Psalm bitte noch einmal zuhause und ich kann mir vorstellen, Sie werden wieder anfangen zu staunen  und sich zu freuen, dass Sie alle hier groß-artige Originale Gottes sind. Dieser Gott ist jedem von uns unvorstellbar nahe und er versteht uns, wie kein anderer Mensch, weil er uns liebt.

Ja, und das wissen wir doch: In deinen Augen werde ich schön, sagt die Liebende zu ihrem Geliebten. In deinen Augen werde ich schön! – Liebe Gemeinde: Gott liebt uns schön! Er kann gar nicht anders, als uns schön zu lieben. Alles Hässliche, alles Dunkle, alles unpassende, ALLE SCHLECHTEN SEITEN haben da keinen Platz mehr!

Deswegen hat das Versteckspiel vor Gott keinen Sinn und es könnte ein Ende haben. Denn die ganzen Exkursionen, die der Beter hier gemacht hat, die müssen wir alle nicht noch einmal nachholen. Versteckspiel vor Gott ist Unnötig.

Und ich möchte Sie gerne hinein nehmen in diese Freude und diese Geborgenheit dieses Beters, der schlussendlich keine Angst hat vor der Gegenwart Gottes, weil sie ihn aufbaut und weil sie ich aufrichtet, so wie die LIEBE IMMER nur den Geliebten aufrichtet und stärkt.

Und eine Konsequenz zieht er daraus: Und mit der möchte ich uns auch gern in Berührung bringen: „Durchforsche mich Gott; sie mir ins Herz, prüfe meine Gedanken und Gefühle. Sieh, ob ich in Gefahr bin dir untreu zu werden, dann hol mich zurück auf den Weg, der zum ewigen Leben führt.“

„Durchforsche mich Gott“ – Eben haben wir gesagt: Gott weiß alles, Gott sieht alles. Schon bevor ich anfange zu grübeln und zu reden, hat er das alles schon wahrgenommen. Warum denn jetzt diese Bitte: Durchforsche mich Gott!?

Es ist ein Unterschied, ob ich mich ganz bewusst vor Gott öffne und sage: „Lieber Vater im Himmel, hier bin ich und nun schau mich an und nun sieh auf welchem Weg ich bin. Und schau dir genau an, in welchen Gefährdungen du mich siehst. Und bitte, ich möchte mich von dir korrigieren lassen.“ –

Das ist etwas anderes, als wenn ich sage: Ja, Gott weiß sowieso alles…

Hier sind wir eingeladen, uns mit dem Beter zusammen ganz bewusst dem Wort  Gottes, dem Urteil Gottes und uns seiner Nähe auszusetzen und zu sagen: „Herr, Gott, hier bin ich! Und ich möchte deinem Wort standhalten. Ich möchte mit den Selbstbildern Schluss machen. Ich möchte mir von dir sagen lassen, wer ich bin.“

 

Liebe Gemeinde, es gibt drei, mindestens drei Möglichkeiten, wie wir heute auf diesen Text reagieren können:

Wir können uns freuen über diese Geborgenheit: Von allen Seiten umgibst du mich… - da kommt keiner an mich ran: Was für ein Geschenk! Er hält die ganze große Welt in seiner Hand; und er hat auch das kleinste Wese, das kleinste Baby in seinen guten Händen…  - 

Und liebe Gemeinde, er hält auch die in seiner Hand, die im Vertrauen auf sein unbegrenztes Nahesein sterben. Auch die, die sich von dieser Erde verabschieden mussten und müssen, bleiben in seiner Hand. Es stimmt – und zwar in Ewigkeit: Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.  ---- Geborgenheit: Freuen darüber, dass wir an solch einen Gott glauben dürfen.

Und das andere: eine Gewissensprüfung: Könnte sein, dass das für den einen oder anderen angesagt ist: „Herr, erforsche mich! – Ich möchte mich deinem Wort und Urteil aussetzen. Ich möchte hören, wie du über mich denkst. Ich möchte hören, was Du in meinem Leben korrigieren oder verstärken möchtest.“

Und eine 3. Möglichkeit wäre: „Herr, ich möchte gerne zu den Leuten gehören, die in deiner Gefolgschaft stehen. Ich möchte Dir gerne nachfolgen – hier bin ich! Denk an mich Herr, wenn Du die Geschichte Deines Reichs baust, ich will dabei sein.“  Amen.

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