Weisheit

04.03.2007 | 23:36

Prof. Dr. H. Häring

Gott hat es den Glaubenden geschenkt, die Welt durch die Einfalt der Verkündigung zu retten (1 Kor. 1, 21)

 

Als Schüler lebte ich viele Jahre in einem Internat, über dessen Pforte die Inschrift prangte: „Initium Sapientiae – Timor Domini - Der Anfang der Weisheit ist die Furcht des Herrn“. Was sollte dieser Psalmvers (111,10) bedeuten? Vor wenigen Wochen stand ich wieder dort und fragte mich, ob ich das Wort jetzt, nach 50 Jahren, verstanden habe. Weiß ich heute endlich, was mit dieser Tugend gemeint ist? Warum hat man die Weisheit immer zu den sieben grundlegenden Tugenden gezählt? Irgendwann wurde mir klar: Wer die Weisheit verstehen will, müsste selbst weise sein. Also bleibt mein Verstehen Fragment. So habe ich mich bei der Übernahme dieses Predigtthemas stark überschätzt. Beim erneuten Nachdenken fand ich nur vier einzelne Aspekte, die in diese Predigt eingehen sollen. Sie könnten zum Anlass weiteren Nachdenkens werden.

 

1. Weisheit der Augen – eine nachhaltige Weltsicht

Weise Menschen, so mein erster Gedanke, stecken den Kopf nicht in den Sand, sondern behalten wache Augen. Das ist nicht einfach, denn wer mit wachen Augen betrachtet, was um ihn herum geschieht, wird täglich, ja stündlich daran erinnert: Unsere Erde, die Menschheit, wir selbst sind von Abgründen bedroht, voller Chaos und unberechenbarer Gewalt. Unsere Welt, wir eingeschlossen, sind zutiefst in Unordnung. Genau genommen leben wir in unerträglichen Zuständen und lassen wir unerträgliche Zustände zu. Wir kennen die Kriege und Gewaltausbrüche zwischen Staaten, Kulturen, Religionen, auch in unserer Gegenwart. Wir kennen die verdeckten und offenen Aggressionen in unserem Land, in unserer Stadt, in unseren Familien.Der zweite Vers der Bibel hat recht: Die Erde ist ein Tohuwabohu, sie ist von Finsternis bedeckt, sie ist vom Chaos überzogen und bedroht. Der biblische Schöpfungsbericht spricht nicht von vergangenen Urzeiten, sondern von der Gegenwart. Anders gesagt: Die Urzeiten sind bis heute nicht überwunden, sondern melden sich immer wieder zurück. Befragen wir nur die Kosmologie, für die schon eine Quantenfluktuation zur Weltkatastrophe oder zu einem neuen Weltall führen kann, oder die analytische Psychologie, nach der unser Ich einem ständigen Zusammenbruch ausgesetzt ist, oder die Politik, für die gerade entspannte Zeiten zu neuen Gewalteruptionen führen. Überall stoßen wir auf Unfertiges und Verworrenes, auf dunkle Schichten von Welt und Wirklichkeit, die niemand durchschauen kann, weil sie nicht zu durchschauen sind. Leviathan und Behemot, also Nilpferd und Krokodil, diese überstarken und furchterregenden Tiere demonstrieren im Buch Ijob das Zerstörerische dieses Chaos: Zwar ist alles Gottes Herrschaft unterstellt, es ist aber keineswegs überwunden. Zwar trägt Gott eine jede Situation mit, aber im uns naheliegenden Sinn des Wortes ist er keineswegs allmächtig; schon der Begriff ist nicht in der Bibel zu finden. So besagt der biblische Glaube an den Schöpfergott nun wirklich nicht, dass alles geregelt sei, sondern etwas vielleicht viel Wichtigeres, dass wir nämlich bei der Bändigung des täglichen Chaos Gott an unserer Seite haben. Aber wie die Gerechtigkeit auf der Waage, so bleiben unsere mühsam erarbeiteten Ordnungen immer in einem labilen, höchst zerbrechlichen, oft genug gestörten oder zerstörenden Gleichgewicht.Das sind kluge Formeln, mögen Sie sagen, und nutzlos, wenn wir sie nicht mit Leben füllen. Was also besagen sie konkret? Wie genau können wir uns Gottes Hilfe vorstellen, wo doch – im Guten wie im Bösen - alles von uns selbst abhängt? Was haben wir selbst zu tun, wenn wir ohne Gottes Hilfe machtlos sind? Hilflosigkeit überall, in der Politik, in der Wissenschaft, auch in den Medien, die um Schuldige zwar nie verlegen sind, uns aber nicht wirklich weiterbringen. Ich meine, dass es einer ganz besonderen Gabe und Begabung bedarf, tagtäglich den genauen Kern unserer Unordnungen zu erspüren und herauszufinden, was in Wahrheit falsch läuft, so wie ein guter Arzt seine Heilung nicht mit einer richtigen, sondern nur mit einer guten Diagnose beginnt.Dies ist ein erster Grund, weshalb die Weisheit für die Erhaltung der Welt, unserer menschheitlichen und menschlichen Beziehungen unverzichtbar ist. Heroisch sieht sie nicht aus und nur in Augenblicken höchster Bedrohung tritt sie vielleicht in den Vordergrund. Ansonsten bleiben dieser Wille und diese Fähigkeit zu einer nachhaltigen Weltsicht eine Art Hintergrundtugend, die in der Regel unmerklich und unbemerkt ihre Diagnose stellt, sich nie aufdrängt, aber immer präsent ist, weil sie immer wieder auf selbstverständliche Grundorientierungen hinweist, auf den Wert von Mitgefühl und Mitmenschlichkeit, auf den Respekt vor dem Leben, auf Gerechtigkeit und Wahrheit, auf die Achtung zwischen Mann und Frau, auf die Schonung der Schwächeren und Ausgenützten unter uns. Ihre Sensibilität ermutigt nicht immer zu heroischen Aktionen, aber immer für einen wachen Blick, der tiefer zu schauen weiß als die Blicke unserer distanzierten, immer auf Effekt ausgerichteten Vernunft.Nicht ohne Grund sind bei uns auch die Weisheitsströme des chinesischen Kulturraums als Weltreligionen anerkannt. Zwar sind diese nicht an einem wirklich persönlichen und jenseitigen Gott interessiert; das mag uns zu Fragen veranlassen. Aber mit höchster Konzentration suchen sie das Heil, die Ruhe, das Göttliche im ausgeglichenen Maß des Diesseits, in der Suche nach den Quellen unserer Unordnung. Das verdient unser Interesse. Vielleicht wäre es auch an der Zeit, die Weisheitsbücher unserer biblischen Tradition wieder genauer zu lesen und von ihnen die Hochschätzung eines Lebens zu lernen, das seine eigenen Grenzen erkennt, die inneren Beben erspürt und zum Ausgleich bringt. Denn wir leben in einer Epoche des Umbruchs. So hat auch der viel beklagte Glaubensverlust seinen Grund nicht im Unwillen der Menschen. Er hat seinen Grund – viel ernster noch – im um sich greifenden Unvermögen, uns in unserer Welt zurechtzufinden oder Modelle für einen inneren, für den sozialen, für den Weltfrieden zu erspüren. Wer sich seiner Fundamente nicht mehr sicher ist und wer mit seiner Verwirrung nicht mehr zurecht kommt, kann auch keine Türme des Gottesglaubens mehr bauen.

 

2. Weisheit der Hände – eine nachhaltige Weltarbeit

Weise Menschen, so mein zweiter Gedanke, stecken die Hände nicht in die Tasche, sondern arbeiten an einer geordneten Welt. Sie arbeiten an einer nachhaltigen Weltorientierung. In lateinischen Schriften und noch bei Thomas von Aquin kann man eine erstaunliche Definition der Weisheit lesen. „Sapientis est ordinare“, steht da, „Sache des Weisen ist es, Ordnung zu schaffen“. Nichts Aufregendes, könnten wir sagen. Wir kennen die Buchhalter, die Ordnung ins Finanzchaos bringen, die Polizisten, die den Verkehr steuern oder die Eltern, die ihre Kinder zum Aufräumen ihres Zimmers anhalten. Mit dem bürgerlich-biederen Motto „Simplify your life“ scheffelt in Deutschland eine aufwendige Organisation viel Geld. Aber hinter diesen banalen Beispielen verbirgt sich mehr. Viele von uns leiden wirklich an der Unordnung ihres Schreibtischs, ihres Lebens oder ihrer Familie. Wir alle leiden an der tief eingewurzelten Unordnung unserer Herzen, die oft genug das Spiegelbild jener zerrütteten Weltordnung sind, von der wir täglich in den Medien hören. In uns allen steckt und arbeitet die untrügliche Intuition, dass wir im Letzten eine grundlegende Ordnung brauchen, die uns Halt verleiht. Das ist wohl der Grund dafür, dass die biblische Schöpfungsgeschichte eine Geschichte des Ordnens ist. Unterschieden und geordnet werden Tag und Nacht, Himmel und Erde, Wasser und Land, Sonne und Mond, Sterne, Pflanzen und Tiere, Fische und Vögel, Mensch und Tier, Mann und Frau. Noch einmal: Vergangenheit oder Gegenwart? Mehr denn je ist unsere Welt unübersichtlich geworden. Weltstimmungen und philosophische Strömungen leben davon, seien es der Postmodernismus oder die Globalisierungsdebatte, die Angst vor der nächsten Terrorwelle oder der Klimakatastrophe, das wachsende Misstrauen gegenüber Politik und Wissenschaft. Wenn uns doch wenigstens klar wäre, was schon den ersten Schöpfungstag beschäftigt, dass nämlich Licht und Finsternis zu unterscheiden sind. Umso fataler ist es, dass wir den Willen zum Ordnen unserer Welt, unserer Umgebung, unserer Stadt oft genug aufgegeben haben.Gewiss, in der Theorie akzeptieren wir letzte Untergrenzen, wie wir sie etwa aus den Zehn Geboten kennen. Zerstörung des Lebens, offensichtliche Ungerechtigkeit, Lüge und Korruption, Missachtung der menschlichen Würde. Aber die positive Gestaltung dieser Verbote ist ungleich schwieriger. Was hätte man zur Lösung von Konfliktfällen anders in die Wege leiten können oder müssen? Wo genau liegt der Punkt, an dem unmerklich etwas beginnt, schief zu laufen? Wo sind die Weisen, die uns frühzeitig hätten warnen oder zu Besserem verführen können? Wo? Es gibt Frauen und Männer unter uns, die durch ihr Handeln fähig und bereit sind, es mit der Unordnung der Welt am richtigen Ort und im richtigen Augenblick aufzunehmen, also nicht zu moralisieren, sondern Orientierung zu bieten. Jede Gemeinschaft, sogar jede Familie ist auf sie angewiesen.Von dieser Orientierungsfrage sind die Weltreligionen, ist auch der christliche Glaube ganz durchdrungen. Sie alle versuchen, Welt und menschliche Gemeinschaft zutiefst in einen guten Zusammenhang und in ein Ordnungsgefüge zu bringen, das trägt. Jan Assmann, einer der großen Kenner der Religionen, hat die Kernbegriffe dieser Sehnsucht einmal zusammengetragen und miteinander verglichen. Er spricht von der „konnektiven“ Gerechtigkeit, einer Gerechtigkeit also, die die Welt im Innersten zusammenhält, die uns zu verbinden weiß: Er nennt das ägyptische Ma’at, das indisch-nachvedische Dharma, das Karma des Hinduismus und das uns bekannte, oft banalisierten Tao, also jenes Symbol der großen, alles bestimmenden inneren Ausgewogenheit der Dinge. Er greift schließlich die biblische, also jüdische und christliche Grundfrage auf, wie wir denn zur umfassenden Ordnung der Gerechtigkeit kommen, die wir akzeptieren können und in der wir schon ohne gute Leistungen akzeptiert sind. Mit den Worten des christlichen Glaubens formuliert: Es geht um die tröstliche Gewissheit, dass diese Grundordnung, diese Gerechtigkeit allen Seins letztlich von Gott gegeben und garantiert ist. Deshalb geht es auch um den Einsatz für die Gerechtigkeit des Zusammenlebens, wofür der Islam so leidenschaftlich kämpft.Genau um diese Gerechtigkeit geht es beim Geschäft der Weisen. Sie ist durch und durch Gottes Gabe und muss in ihren Spuren erst von uns, von den Weisen unter uns erkundet, engagiert aufgegriffen, erarbeitet werden. Das verlangt tätige Intuition, Sensibilität, Gelassenheit, eine Antenne also, die die Geräusche unseres Alltags und die Überwältigungsstrategien unserer Medienwelt hinter sich lässt.Spuren suchen und regelnd, vielleicht mahnend, vielleicht tröstend eingreifen, darum geht es. Weisheit ist eine Kunst des Paradoxen und der sanften Orientierungen. Und weil auch sonst wo in unserem Leben das Wahre und das Falsche oft nahe beieinander liegen, ist für Außenstehende, also für nicht Betroffene, oft kaum zu unterscheiden, ob hier Torheit oder Klugheit am Werk ist. Paulus weiß im ersten Korintherbrief (1, 18-31) mit diesem doppelten Boden zu spielen. Was gestern noch weise war, kann über Nacht, unter nur wenig veränderten Umständen  also zur Dummheit werden. Er spürt, dass Weisheit und Torheit schnell ineinander greifen. Das Gebet kann unversehens zum Geplapper, die Furcht des Herrn schnell zur Eitelkeit des Frommen, die gute Tat zur heuchlerischen Selbstdarstellung, die hilfreiche Ermahnung zur lästigen Dreinrederei werden, und Fromme werden zu Heuchlern, ohne dass sie sich dessen bewusst sind. Oft durchschauen wir uns selbst und die doppelten Böden in uns nicht. Deshalb sagt das Buch Sirach recht nüchtern: „Widerstreite der Wahrheit nicht, deiner Dummheit sollst du dich nicht schämen“ (4,25). Weisheit kann sich nie selbst darstellen oder anpreisen, genau das wäre töricht. Wer deshalb wirklich auf Gott und auf dessen Sache vertraut, wird seine eigene Weisheit immer nur als einen Versuch verstehen, tatkräftig zu helfen; - ein Versuch, der jederzeit misslingen kann: „Ich zerstöre die Weisheit der Weisen“, sagt Paulus, „und den Verstand der Forschenden setze ich ins Unrecht.“ (1 Kor 19) Damit werden die Hände der Weisen nicht ins Unrecht gesetzt, im Gegenteil. Es wird nur gesagt, dass ihr Handeln immer neu beginnt. Nur so wird eine nachhaltige Weltorientierung wirksam.

 

3. Weisheit des Dabeibleibens – eine nachhaltige Weltsolidarität

Weise Menschen, so mein dritter Gedanke, lassen Welt und Mitmenschen nicht im Stich, sondern halten ihnen die Treue. Weisheit, so sagte ich, schlägt in Torheit um, wenn sie nicht am Puls der Zeit bleibt, wenn sie der Welt also ihre Gesetze aufdrängen will, statt mit ihr mitzuleiden, solidarisch zu sein. Zusammen mit den Männern und Frauen der ersten Stunde macht Paulus darüber einschneidende Erfahrungen. Es ist unbestreitbar: Die Umbruchszeit nach Jesu Tod führt zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem jüdischen Erbe, nicht weil der jüdische Glaube jetzt falsch wird (man behält ihn ausdrücklich bei), sondern weil der Weisheit des Judentums ein weiterer Gesichtspunkt hinzugefügt wird. Es ist die „gefährliche Erinnerung“ an Jesu Tod, die unserem Umgang mit der Welt eine neue Perspektive, einen neuen Prüfstein gibt. Wer das Sterben und den Tod eines Menschen einmal mit durchlitten hat und wer sich der Todessituation eines Angehörigen, den Todessituationen von Menschen stellt, wer auch nur einmal erlebt, wie brutal Unrecht und Menschenverachtung sein und wirken können, für den stellt sich die Welt anders dar. Vor diesem Hintergrund dreht Paulus den Spieß der bisherigen Weisheitsrede um. Er radikalisiert sie, indem er sagt: Der Tod Jesu, diese neue Erfahrung der Solidarität mit Menschen, relativiert alles, was wir bisher für weise hielten. Was wir in seiner todbereiten Solidarität erlebt haben, ist nun wirklich Weisheit Gottes. Von ihm aus wird alle andere Weisheit, die sich dem Tod nicht bis zur Neige gestellt hat, zur Torheit, weil sie vorläufig und ohne letzte Konsequenz blieb. In diesem Tod also erscheint die Welt in neuem Licht. Viele unter uns, gleich ob sie fromm sein möchten oder nicht, wissen, wie zutiefst menschlich und wie nachvollziehbar diese neue Perspektive ist.Aber auch mit dieser kostbaren Erinnerung ist die Weisheit nicht ein für allemal sichergestellt, denn auch wir Christen haben keine Weisheitsgarantie, nicht einmal den Gläubigen der ersten Stunde war sie gegeben. Denn nur wenige Jahre nach dieser Durchbruchserfahrung muss Paulus entdecken: Sogar der wohl begründete christliche Glaube kann bei der ersten Bewährungsprobe seine Orientierung verlieren. Was nämlich bedeutet er für Menschen, die die jüdische Lebensform nicht teilen? Wie ist mit der Thora, dieser spezifisch jüdischen Lebenspraxis umzugehen? Jetzt appelliert Paulus direkt an diese innere Ordnung, von der soeben die Rede war und auf die alles ankommt. In biblischer Sprache geht es um die Gerechtigkeit, um die Rechtfertigung selbst.Welcher Prüfstein kam also mit und durch Jesu Tod hinzu? Welche Grunderfahrung hat die christliche Botschaft den Maßstäben hinzuzufügen, unter denen sich die Weisen und ihre Weisheit zu bewähren hat? Es ist die Erfahrung, dass Jesus, der Unschuldige, nicht aus der Unordnung der Welt ausgebrochen ist, sondern sich ihr vorbehaltlos gestellt hat, alles Scheitern auf sich nehmend und dies eine wissend: Schuldzuweisungen bringen keine Rettung. Nur wer sich der Weltlage auch dann stellt, wenn er unter ihr leidet und nur wer nicht meint, er könne ihrer Gewalt mit Gegengewalt, einer Verletzung mit neuer Verletzung, einer Verurteilung mit neuer Verurteilung beikommen, nur solche Weisen können den Unfrieden demaskieren. Das war ja bei all ihrem Bemühen die letzte Lüge, die auch von den Opferreligionen nicht aufgedeckt wurde. Sie meinten, wir könnten das Leiden der wirklichen Opfer mit dem Leiden der dargebrachten Opfer versöhnen. In Wirklichkeit ist nur weiteres Blut geflossen; darauf weist schon die Geschichte vom Beinaheopfer des Isaak hin. Nicht nur Jesus, vor und nach ihm haben auch viele Andere diesen Kreislauf der Gewalt durchbrochen. Aber seit Jesus wissen wir, dass genau diese Solidarität Gottes Weisheit entspricht.Das mag ein weniger angenehmer Aspekt unseres Lobs der Weisheit sein, weil es genau an diesem Punkt zum Lob der Torheit umschlägt. Unsere Welt ist so von Gewalt und Drohung durchsetzt, dass zur Weisheit mehr denn je die Selbstlosigkeit gehört und die Fähigkeit, um der Heilung willen die Unordnung mitzutragen, einfach da zu sein und das Gute zu tun. Jesus kleidet diese weise Torheit in die Metapher der Kleinen und der Kinder. Nicht etwa, weil die Kleinen so lieb und unschuldig wären, sondern weil sie (damals überhaupt nicht ernst genommen) einfach offen, nicht verstellt sind, keine klugen Welterklärungen, auch keine Strategien der Selbstverteidigung zur Hand haben. Staunend oder erschreckt nehmen sie die Welt – auch in ihrer Unordnung – so wahr, wie sie ist. Diese selbstvergessene Offenheit scheint für ihn der Grund aller Weisheit zu sein. Er sagte: „Ich preise dich Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du all das den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber offenbart hast.“ (Lk 10,21) Vergleichen wir dies noch einmal mit Paulus: An Selbstbewusstsein fehlte es ihm ebenso wenig, aber er verstand sich nicht als den großen Propheten, den Kirchengründer oder Apostelfürsten (diesen Titel hängte man ihm später an), sondern als vom Satan Gepeinigten (1 Thess. 2,18), als Letzten der Apostel, als Missgeburt (1 Kor 15,8). Nach seinem großen Lebensirrtum der Christusgegnerschaft hatte er nichts mehr zu verlieren. Wer so weit ist, kann endlich entdecken, was vorbehaltloses Vertrauen auf Gott bedeutet. Die Rechtfertigungslehre ist ja kein Glaubenssatz, den man auswendig lernen und neben andere Glaubenssätze stellen kann. Sie benennt eine Grundhaltung, die sich ganz offen auf die Wirklichkeit einlässt und in der Unordnung mit sich selbst ins Reine kommt, gleich, ob man ihn dies Weisheit oder Torheit nennt.

 

4. Weisheit des Vertrauens – eine nachhaltige Welthoffnung

Weise Menschen, so mein letzter Gedanke, halten sich nicht für die Retter der Welt, sondern ordnen sich Gottes Weltordnung unter. Mit den bisherigen Überlegungen könnten wir immer noch in eine Falle laufen. Das Wort von der Torheit der Welt und der Weisheit unseres Glaubens hat uns Christen über Jahrhunderte zur Überzeugung verführt, allein wir, die Christen, hätten die wahre Weisheit, die Weisheit aller Anderen aber sei schlicht Torheit. Schnell kann uns klar werden, wie töricht eine solche Überzeugung ist. Wenn Paulus von der Torheit „der Welt“ spricht, schließt er ja keineswegs aus, dass die törichte Welt auch bei Christen zu Hause ist. Genau dagegen kämpft er an. Ebenso wenig schließt er aus, dass Weisheit auch bei anderen zu Hause ist, denn das ist nicht sein Problem. Alle großen Religionen, Philosophien und Weltanschauungen bergen Schätze der Weisheit, Quellen unerschöpflicher Lebensordnung und Orientierung.Die Bibel scheint derselben Meinung zu sein. Gerade die Weisheitsbücher der Bibel sind in ihrer bildreichen Sprache davon überzeugt, dass die Sophia, Frau Weisheit, bei allen Menschenkindern zu Hause ist. „Ich liebe alle“, sagt da die Weisheit, „die mich lieben, und wer mich sucht, der wird mich finden.“ (8,17) Weisheit bedarf deshalb keiner besonderen Frömmigkeit, keiner hochgezüchteten Intelligenz und keines Spezialistentums. Sie ist immer dort zu finden, wo Menschen sich, ihre Mitmenschen und die Welt ernstnehmen. Sie ist schon vor uns da: „Der Herr hat mich geschaffen im Anfang seiner Wege, vor seinen Werken in der Urzeit; in frühester Zeit wurde ich gebildet, am Anfang, beim Ursprung der Erde ... Als er den Himmel baute, war ich dabei ..., als er die Fundamente der Erde abmaß, da war ich als geliebtes Kind bei ihm.“ Deshalb taucht Weisheit in unserer Mitte immer wieder auf, oft unerwartet und als Geschenk: „Ich spielte auf dem Erdenrund und meine Wonne war es, bei den Menschen zu sein.“ So können wir sie überall finden. Gerade weil wir die Weisheit so oft verfehlen, ist das Vertrauen auf ihre Gegenwart unverzichtbar und ungemein tröstlich. Nicht ohne Grund erhält sie in der Schrift eine kosmische Weite.Zwar wird die Weisheit, wie wir sahen, mit Schmerzen erkauft, aber immer, vielleicht gerade deshalb behält sie ein freundliches, ein erlöstes Gesicht. Sie spielt, sie will uns nahe sein, sie verleiht Wonne, Liebe, Nähe zu Gott. Solche Gedanken haben in den ersten Jahrhunderten eine Rolle gespielt, als sich die christlichen Theologen versuchten, das Geheimnis Jesu Christi in Worte zu fassen. Sehr früh schon stießen sie auf das Bild der Weisheit. In der hebräischen Bibel steht, wir hörten es, die Weisheit sei von Anfang an bei Gott. Im Johannesevangelium lesen wir dann, von Anfang an sei das Wort bei Gott. Es ist also Gottes Weisheit, die zu uns herabgestiegen, in Jesus von Nazaret Fleisch geworden ist.Die Überraschung mag groß sein, denn die so weltliche Tugend der Weisheit, die richtig zu sehen, selbstlos zu handeln und die Welt einfach auszuhalten weiß, findet im Zentrum des christlichen Glaubens, in Jesus selbst also, ihre Heimat. Dies ist Grund genug, um Gott – angesichts von Jesu Leiden und befreiendem Tod – nicht nur um die Tugend, sondern um die Gnade der Weisheit zu bitten: um eine realistische Weltsicht, um eine heilsame Weltorientierung und um eine selbstvergessene Weltsolidarität. Dies ist uns nur möglich, weil uns Gottes Weisheit ein Weltversprechen hinterlassen hat, auf das wir uns voll verlassen können: „Wer groß sein will, preise die Weisheit des Ewigen“.

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Willkommen zurück: Gottesdienst in der Blankeneser Kirche!

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So 10. Mai, 10 + 11 Uhr | Kirche | Predigt: Pastor Thomas Warnke
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Die Kirchengemeinde schreibt: "Wir dürfen wieder Gottesdienst in der Kirche feiern. Und so wagen wir am kommenden Sonntag „Kantate“, dem 10. Mai, einen Neuanfang. Strenge Auflagen sind zu bedenken: Sicherheitsabstände von zwei Metern, Hygiene-Regeln, Masken-Pflicht. Singen ist noch nicht erlaubt, dafür aber Summen – und natürlich musikalische Begleitung durch Orgel und Solisten. Trotzdem wird es ein schöner, ganz besonderer Gottesdienst werden!

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